„Zerebrale Gymnastik“ oder „können Neuronen traurig sein?“ Kursorische Anmerkungen zur Gehirn-Geist-Debatte Dipl.-Psych., Psych. Psychotherapeut |
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Arbeitspapier zur
Weiterbildung in der Abt. für Psychotherapeutische Medizin u.
Psychosomatik |
5.1. Prinzip der „geschlossenen“ und „offenen Frage“ im Labor – Grade der Kontrolle 5.2. Methodische Konstruktion von Erkenntnis oder „alles so schön bunt hier“ 6. Neuro-basierte Psychiatrie u. Psychotherapie – „Schauen wir lieber mal direkt ins Gehirn“ 7. Schluss – oder "jeder muss sein Gehirn selbst in die Hand nehmen" |
Anlass, Grund – oder Ursache – unseres Arbeitspapiers war die Einladung, im Rahmen unserer Weiterbildung, einen Artikel von Felix Tretter, Chefarzt an der Isar-Amper-Klinikum in München-Haar, zur „Gehirn-Geist-Debatte mit Blick auf die Psychiatrie“ (2007) vorzustellen. Bei der Vorarbeit geriet ich selbst in die (Un)-Tiefen dieser Debatte, so dass sich das Referat des Textes Tretters in einer Skizze dieser Auseinandersetzung auflöste, insbesondere die Debatte um die Willensfreiheit und den (natur- bzw. neurowissenschaftlichen) Determinismus betreffend. Was fasziniert so am menschlichen Gehirn, dessen kulturelle Bedeutung zwischen „Enigma“ und „Sicherheitsrisiko“ changiert? Das „Gehirn, so wie es seit dem späten 18. Jahrhundert verstanden wird, ist ein distributiv arbeitendes Organ, in das die menschlichen Qualitäten mehr oder weniger vollständig eingeschrieben sind. Und menschliche Qualitäten heißt: die Qualitäten, die den Menschen als Alltagswesen auszeichnen und nicht mehr als ein metaphysisches Wesen, das von Gott kommt. Und auch nicht mehr ein Wesen, das durch historisch invariante Qualitäten ausgezeichnet ist, sondern ein Wesen, wie es in der Alltagswelt erscheint“ (Gehring, P.; Hagner, M. 2006). Ab dem Beginn des 18. Jahrhundert wurden zwar zunehmend menschliche Körper seziert, „aber das interessante ist: nie das Gehirn. Das Gehirn ist erstmal eine Art von Organ, das man nicht berühren darf. Das lässt man in Ruhe. Der Kopf wird nicht eröffnet, der bleibt unangetastet. Den Rest, den kann man wunderbar sezieren, auseinander nehmen, das ist kein Problem. Einzige Ausnahme sind die Selbstmörder, weil man da eine forensische Vermutung hat. Aber das zeigt, dass das Gehirn unter den Organen – es ist physiologisch ein Organ wie jedes andere auch, und man nimmt keine kategorial anderen Prozesse an – in der sozialen Praxis ein besonderes Organ ist“ (ebd.). Das Hirn ist hat eine andere Anziehungskraft als das Unbewusste. Da steckt geballtes Potential drin. „Also Vergangenheit kurieren, das hat allemal nicht viel mehr als die Herstellung einer Heilung in der Gegenwart im Auge. Ein Hirn zu verändern oder auch nur zu erkennen: das zielt auf Zukunft“ (ebd.). Die Zukunftsvisionen der gegenwärtigen Neurowissenschaften zeigen ineins eine Depotenzierung des Menschen als hirndeterminiertes Biosystem und eine Ermächtigung des Menschen als Forschungssubjekt. Es handelt sich dabei nicht nur um eine akademische Diskussion, da die Auswirkungen des Hegemonialanspruches dieses Menschen- und Weltentwurfs bereits praktisch zu spüren sind.[1] Es gibt wichtige und sehr bedenkenswerte Ergebnisse der Neurowissenschaften, gerade auch für uns TherapeutInnen, aber wir sollten auch anderen als der naturwissenschaftlichen Erkenntnis- und Erfahrungsweise Raum und Legitimität geben. Die Engführung auf das naturwissenschaftlich Ausweisbare führt zu einem sozialen und geschichtlichen Reflexions- und Wirklichkeitsverlust. Methodische Sicherung und Vergewisserung dient ja nicht allein der „Beweisführung“, sondern ggf. auch der „Angstabwehr“ (Devereux, G. 1967). Die Literatur zum Thema ist unübersehbar, so dass meine Auswahl an Texten sehr willkürlich ausfällt. Es fehlt nicht nur die Darstellung der positiven Forschungsergebnisse, sondern auch die Behandlung einzelner Themenstränge (Kognition i.e.S., Emotion, Gedächtnis, „Theory of Mind“ etc.). Ausdrücklich – obwohl für unsere Arbeit naheliegend – kommt die Psychoanalyse bzw. „Neuro-Psychoanalysis“ nicht zur Sprache, da dies einer eigenen Ausarbeitung bedürfte. [1] Lehrstühle in Philosophie und Psychologie werden zunehmend mit Neurowissenschaftlern bzw. –philosophen besetzt; Therapiemanuale einer „evidenzbasierten Medizin“ angepasst, wobei die Kultur- und Sozialwissenschaften sowie ethische Fragen in den Hintergrund treten.
nächstes Kapitel ► 2. Das „Manifest“
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