Rudolf Süsske:  „Zerebrale Gymnastik“ oder „können Neuronen traurig sein?“ Kursorische Anmerkungen zur Gehirn-Geist-Debatte

„Zerebrale Gymnastik“ oder „können Neuronen traurig sein?“ - Kursorische Anmerkungen zur Gehirn-Geist-Debatte

3. Begriffsklärungen

3.1. Dualismus vs. Monismus, Sachbezug und Zugangsweise

3.2. Erkenntnisform (Natur)-Wissenschaft

3.3. Das „Bieri-Trilemma“

3.4. Cognitive Sciences und Neurowissenschaften


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Das Ideenkleid macht es, daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist.   Edmund Husserl

3. Begriffsklärungen

3.1. Dualismus vs. Monismus, Sachbezug und Zugangsweise    

Etliche Artikel, die sich mit dem Leib-Seele- oder dem Gehirn-Geist-Problem befassen, beginnen mit einer Schelte Descartes. Dieser habe mit seiner problematischen Unterscheidung von res cogitans und res extensa, also der denkenden und der ausgedehnten Substanz, die Verhältnisbestimmung von geistig-psychischen Erlebnissen bzw. Akten und naturalen Ereignissen bzw. Funktionszusammenhängen erschwert. Es ist die Rede vom „Dualismus“, genauer gesagt vom „ontologischen Dualismus“, dh. verkürzt gesagt: es gibt zwei Formen des Seins mit je verschiedenen Bestimmungen. Schon mit Hobbes und später mit Locke und Hume folgten Untersuchungen, das Geistige als materiell-natürliche Prozesse zu bestimmen, ohne dass damit aber die Frage der Willensfreiheit entschieden wäre. Die Sicht eines „ontologischen Monismus [1] hat sich in den Naturwissenschaften durchgesetzt.

Gleichwohl wird die Frage „Bist Du Dualist oder Monist?! in der „Scientific Community“ kaum gestellt, die Antwort „Monist!“ vorausgesetzt. Zumeist würde jedoch ein „aber“ folgen. Denn was „Natur“ sei, wie wir in Bezug zu dieser unsere geistigen und seelischen Vollzüge „interpretieren“, was wir unter Kultur und Sozialität „verstehen“, ist damit noch nicht hinlänglich ausgemacht. Können wir vielleicht Geistiges (ggf. auch Soziales) und Naturales gar nicht auf gleiche Weise begreifen oder das Erste nur verstehen, Zweites nur erklären?[2] Wir werden darauf noch zurückkommen.

Ergebnis dieser Überlegung sollte auf jeden Fall ein Fokuswechsel sein. Es geht jetzt um die Weise des Zugangs zu dem, was wir Natur und Geistiges nennen. Im engeren Sinne sind Erkenntnistheorie bzw. Epistemiologie und Methodologie angesprochen. Es gilt aber ganz allgemein: wir erkennen etwas immer „alsetwas; Sachbezug und Zugangsweise sind nicht voneinander trennbar[3]. Allem, was uns widerfährt, dem wir begegnen oder befragen (Realität), geben wir eine Bedeutung, einen Sinn. Für den Spaziergänger ist zumeist der Wald „Erholung“, für den Förster ggf. nur „Festmeter Holz“; selbst Unbestimmtem geben wir eine Bedeutung: wir sagen: „das war unheimlich“, suchen nach bekannten Bildern, Metaphern: „das ist wie ..., aber auch nicht, sondern …“.

Und was hat das mit unserem Thema zu tun? Alles, insofern sich diese „Als“-Struktur (etwas als etwas) weder lebensweltlich noch wissenschaftlich hintergehen lässt.

 

My Lord, (...) facts are like cows. If you look them  in the face hard enough they generally run away.   D. L. Sayers

3.2.  Erkenntnisform (Natur)-Wissenschaft  

Wissenschaft, insbesondere Naturwissenschaft, ist u.a. auch ein Krisenphänomen. Sie beantwortet Fragen und antwortet auf Probleme, für die das lebensweltlich-pragmatische Wissen sich als ungenügend erwies. Und es geht dabei – zumindest seit der Neuzeit – um Sicherheit, Gewissheit des Wissens. Der alltägliche Glaube, die Dinge seien so wie sie schei­nen, die doxa also, galt es durch geprüftes Wissen (episteme) zu ersetzen. Zu leicht ließ sich der Mensch von seinem spontanen Begehren, seinen Vorlieben, der Tradition oder dem Gerede anderer den Geist trüben, wie ihm 17. Jh. schon Francis Bacon warnte. Mit einem Sprung ins Heute gesprochen: es geht um Objektivität, Validität und Reliabilität.

Wie und Wo finden wir Sicherheit? Erst einmal müssen wir alles vermeintlich Vertraute und Gewisse anzweifeln und der Erkenntnis einen sicheren Grund geben. Der Weg zur Sicherheit geschieht „methodisch“. Descartes bestimmte 1637 die „Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft“ wie folgt:

„Die erste (Regel – R.S.): niemals eine Sache als wahr anzunehmen, die ich nicht als solche sicher und einleuchtend erkennen würde, das heißt sorgfältig die Übereilung und das Vorurteil zu vermeiden und in meinen Urteilen nur soviel zu begreifen, wie sich meinem Geist so klar und deutlich (clare et distincte) darstellen würde, dass ich gar keine Möglichkeit hätte, daran zu zweifeln.

Die zweite: jede der Schwierigkeiten, die ich untersuchen würde, in so viele Teile zu zerlegen als möglich und zur besseren Lösung wünschenswert wäre.

Die dritte: meine Gedanken zu ordnen; zu beginnen mit den einfachsten und fasslichsten Objekten und aufzusteigen allmählich und gleichsam stufenweise bis zur Erkenntnis der kompliziertesten (…).

Und die letzte: überall so vollständige Aufzählungen und so umfassende Übersichten zu machen, dass ich sicher wäre, nichts auszulassen.“ (Abschn. II)

Das cartesianische „ich denke“ (ego cogito) ist der Hintergrund für Kants „kopernikanische Wende“. Bezüglich der Erkenntnis der Natur heißt das: Die Gesetze der Natur lauschen wir dieser nicht ab, sondern tragen sie gleichsam an sie heran. Dabei kommt nur das der Phänomene in den Blick, was sich den Vorgaben fügt. Das berühmte Kant-Zitat aus der Vorrede der „Kritik der reinen Vernunft“ sei hier dazu noch einmal angeführt:

„Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien,(…) in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat sogar Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß (…). Hierdurch ist die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, da sie so viel Jahrhunderte durch nichts weiter als ein bloßes Herumtappen gewesen war.“ (Kant, I., KrV. 1787, 432)

Empirie funktionierte noch nie als ein Sammeln theorieunabhängiger Beobachtungen und was wir nicht hören wollen – weil unsere Frage eine ganz spezielle ist – wird auch nicht gehört. Kants Metaphorik des Gerichtshofes sagt das ganz klar: Der Zeuge wird „genötigt“, gefälligst auf die gestellten Frage zu antworten: „ohne Umschweife: Ja oder Nein!“  Die Wissenschaftstheorie und -sprache ist voller forensisch-herr­schaft­licher Metaphern: sie liefert „Beweise“, „Context of Jus­tification“ (Reichenbach), Theorien müssen sich „bewähren“, es gibt „master scien­ces“, „Exekutivfunktionen“ etc.

Naturwissenschaft zeigt sich dadurch kennzeichnet, daß sie die phänomenale leib- und perspektivengebundene Anschauung überspringt, hineinspringt in einen theoretischen, mathematischen Entwurf einer objektiven Welt der Naturdinge. Die Tatsachen dieser Welt werden als einheitliche, quantitativ bestimmbare Materie (Physikalismus) bestimmt, deren Bewegungsformen als regel- und gesetzmäßiger Verlauf (Determinismus) feststellbar sind.

Für den Geist, Mentales, Sinn und Bedeutung gibt es in diesem materiellen, kausal geschlossenen Universum (erst einmal) keinen Platz. Dazu der Physiker und Nobelpreisträger Ernst Schrödinger:

„Die materielle Welt konnte bloß konstituiert werden um den Preis, dass das Selbst, der Geist, daraus entfernt wurde. Der Geist (mind, mens) gehört also nicht dazu.“  (1942, zit. nach Laucken, U. 2005)

Und was heißt dies für das Geistige, Bewusstsein und menschliche Freiheit? – Kant sah den Menschen noch als Bürger zweier Welten – der kausal geschlossenen Erscheinungswelt der Natur und dem „intelligiblen“ Reich der Freiheit. Diese strikte Trennung ließ sich letztlich nicht begründen, obgleich die heutige Diskussion davon – wie wir sehen werden – noch zehrt.

Für die Natur-  somit auch die Neurowissenschaften mussten der Geist, Bewusstsein, Psychisches, Imagination, Handlungsentscheidung etc., um Eingang in das physikalische Universum zu finden, erst „naturalisiert“ werden. Ich zitiere noch einmal das „Manifest“:

„Auch wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, können wir davon ausgehen, dass all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind.(…) Geist und Bewusstsein – wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden – fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht.“ (Elger, C.E. et al. 2004, 33)

Und ist das nicht in Ordnung? Wenn ich mit Schmerzen zum Arzt gehe, so soll er mir sagen, was in meinem Körper nicht funktioniert und Abhilfe schaffen. Nur wenn ich ihm sage, „ich habe Angst“ und er mir antwortet „Unsinn! Sie sind gesund, Ihnen fehlt körperlich nichts“, dann fühle ich mich unverstanden. Nun gut, vielleicht sagt er auch „Was Sie Angst nennen ist ein biochemisches Ungleichgewicht in Ihrer Hirnphysiologie, da habe ich was für Sie, ein gutes Medikament“. Möglicherweise bin ich beruhigter, zumindest „etwas in der Hand zu haben“, vielleicht grüble ich aber später darüber nach, warum er „ist“ und nicht „entspricht“, „beruht auf…“ oder „zeigt sich physiologisch als…“ gesagt hat. Oder sind meine Empfindungen, Gedanken und Bewertungen nicht doch etwas ganz anderes als ein biochemisches, neuronales Gefüge?

Wenn der Schmerz nachlässt, können wir die Sache konsequenter überdenken und geraten möglicherweise in ein Di-, nein besser: Trilemma.

 

Die materielle Welt konnte bloß konstituiert werden um den Preis, dass das Selbst, der Geist, daraus entfernt wurde.  Ernst Schrödinger

3.3.  Das „Bieri-Trilemma“    

In unserem Alltagsverständnis gehen wir zunächst & zumeist von einer „dualistischen Intuition“ aus und unterscheiden (vgl. Bieri, P. 1993, 2ff)

(1) physische von mentalen Phänomenen. Gedanken, Wünsche, Absichten, Empfindungen sind etwas anderes als Blutdruck, Vergiftungen und Synapsenblockaden. Diese Unterscheidung gilt (2) universell und (3) exklusiv, dh. alle Phänomene unserer Wirklichkeitserfahrung lassen sich unter die einen oder die anderen subsumieren und zwischen ihnen gibt es keine Überschneidungen oder Abstufungen, kein „sowohl als auch“. Mehr noch: sie sind in ihrer Bestimmung aufeinander verwiesen: wenn wir ‚mental’ explizieren, so muß ‚physisch’ (4) kontrastiv mitgedacht werden.[4] Den Punkten 1- 4 entspricht der „ontologische Dualismus“. Mit diesem Dualismus gibt es aber Probleme.

Der Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri hat das klassische Leib-Seele-Problem in Form eines Trilemmas formuliert. Es besteht nämlich ein Konflikt zwischen drei Sätzen, die wir für wahr halten.

„(1) Mentale Phänomene sind nicht-physische Phänomene.

(2) Mentale Phänomene sind im Bereich physischer Phänomene kausal wirksam.

(3) Der Bereich physischer Phänomene ist kausal geschlossen.“ (Bieri, P. 1993, 5)

Der 1. Satz, die Erfahrung unseres subjektiven Erlebens, entspricht dem „ontologischen Dualismus“.  Mit dem 2. Satz behaupten wir „mentale Verursachung“.

Wenn wir vor Angst zittern, vor Scham rot werden oder wenn wir dem Verhalten von Menschen Absichten, Wünsche und Meinungen unterstellen, so nehmen wir eine mentale Verursachung von körperlichen Vorgängen bzw. Handlungen an. Allen „psychosomatischen Phänomenen“ liegt diese Annahme zugrunde.

Diese intuitiv vertraute Denkweise wird aber problematisch, wenn wir den 3. Satz betrachten: die These eines kausal geschlossenen physikalischen Universums. Ein physisches Phänomen ist – nach dem Prinzip des „methodischen Physikalismus“ – erst dann erklärt, wenn es dafür eine physische Ursache bzw. Erklärung gibt. Dem widerspricht aber unsere alltägliche Intuition einer „mentalen Verursachung“.

Ein Trilemma liegt nun insofern vor, dass die Annahme zweier Sätze in Widerspruch zu einem dritten stehen:

-   „Wenn mentale Phänomene nicht-physische Phänomene sind und wenn es mentale Verursachung gibt,  dann kann der Bereich physischer Phänomene nicht kausal geschlossen sein.“ (ebd., 6) (1+2, - 3)

-   „Wenn er jedoch kausal geschlossen ist und wenn mentale Phänomene nicht­physische Phänomene sind, dann kann es allem Anschein zum Trotz keine mentale Verursachung geben.“ (ebd.) (3+1,-2)

-   „Und wenn es sie trotz der kausalen Geschlos­senheit der physischen Welt gibt, dann kann es nicht sein, daß mentale Phä­nomene nicht-phy­sische Phänomene sind.“ (ebd.) (3+2, -1)

„Dieses Problem kann nicht gelöst werden, da es keine Möglichkeit gibt, die drei Sätze miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Das Problem muß aufgelöst werden. Es aufzulösen heißt, einen der drei Sätze aufzugeben“. (ebd., 7)

Den 1. Satz aufzugeben fällt lebensweltlich sehr schwer. Wenn wir hingegen den 2. Satz – die mentale Verursachung negieren, so haben wir die Alternativen des psychophysischen Parallelismus und des Epiphänomenalismus.

Der psycho-physische Parallelismus nimmt zwei getrennte Kausalreihen an: Mentales wirkt auf Mentales, Physisches auf Physisches[5]. Dabei wird nur der Schein erzeugt, es gäbe zwischen Mentalem und Physischem eine kausale Beziehung und somit Satz 2 des Trilemmas als Täuschung gestrichen. Das Modell ist aber nicht kohärent.

„Man kann nicht alle unsere mentalen Zustände erklären, indem man auf andere mentale Zustän­de zurückgreift. Ich kann meine Gedanken an den Arzt und meine Absicht, ihn aufzusuchen, durch meinen Schmerz erklären. Der Schmerz seinerseits aber lässt sich nicht mehr vollständig durch andere mentale Phänomene er­klären. Die Erklärung muß auf Phänomene in meinem Körper zurückgreifen.“ (ebd., 7f)

Der Epiphänomenalismus anerkennt zwar die kausale Beziehung zwischen Physischem und Mentalen, aber auch nur in dieser einen Richtung. Wir täuschen uns in der Annahme, unser Verhalten sei durch mentale Zustände verursacht. Damit werden diese aber zu einem bloßen Epiphänomen, eine überflüssigen Beigabe der menschlichen Natur.

Den 3. Satz – den methodischen Physikalismus – gänzlich aufzugeben, kommt uns aber auch nicht in den Sinn, daran hängt eine sehr erfolgreiche (Wissenschafts)-Ge­schicht­e. Können wir gleichwohl an der Intuition mentaler Verursachung festhalten?

„Die einzig mögliche Auflösung unseres Pro­blems scheint nun der Materialismus zu sein: der Gedanke, daß mentale Phänomene in Wirklichkeit eine Art von physischen Phänomenen sind. Diese Annahme würde uns erlauben, das Faktum mentaler Verursachung mit der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt in Übereinstimmung zu brin­gen: Wenn mentale Phänomene in Wirklichkeit physische Phänomene sind, dann ist mentale Verursachung in Wirklichkeit physische Verursachung und ist nicht rätselhafter als andere physische Verursachung auch“. (ebd., 8)

Mit dem Materialismus (ontologischer Monismus) geht also ein Reduktionismus einher, der mentale Phänomene vollständig in physische zu „übersetzen“ beansprucht, womit wir wieder beim „Manifest“ (s.o.) der Neurowissenschaftler sind.

Angemerkt sei hier aber noch, dass dem 3. Satz mit dem Hinweis widersprochen wird, die moderne Physik, insbesondere die Quantenphysik, sei mit dem „klassischen mechanischen Universums“ nicht vergleichbar. „Unschärferelation“ und „Beob­ach­ter­einfluss“ (Heisenberg) sowie die Dualität von Welle und Korpuskel bei der Betrachtung des Lichts führten zu einem „methodischen Dualismus“. Das Leib-Seele-Problem ließe sich so – durch einen „epistemischen Dualismus  – „lösen“ oder zumindest pragmatisch entschärfen.

Nur sei darauf hingewiesen, dass Indeterminismus für eine Bestimmung des freien Willens nicht hinreicht, da freie Willensentscheidung nicht Zufall bedeutet.

 

Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser (...) Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft.   Friedrich Nietzsche

3.4.  Cognitive Sciences und Neurowissenschaften    

Neurowissenschaften verstehen sich als Naturwissenschaften und somit ist der Determinismus systematisch angelegt. In den konkreten Forschungsprojekten ist davon und von Kausalität aber weniger die Rede, dafür mehr von „Funktions“- und „Regelungsabläufen“, „systematischen Effekten“. Gleichwohl geht es immer um „wenn-dann-Beziehungen“: ein Effekt X ereignet sich, wenn die Bedingungen a, b, c vorliegen. In unserem Arbeitsfeld der Psychotherapie ist der „Behaviorismus“ [6] ein klassisches Beispiel und er gehört wesentlich zur Vorgeschichte der „Naturalisierung des Geistes“:

In "Psychology as the Behaviorist views it" schrieb Watson 1913, die Psychologie sei immer noch keine strenge Naturwissenschaft. Grund hierfür sei, dass man an dem unfassbaren Begriff des Bewußtsein festhalte. Das Bewußtsein sei nicht wissenschaftsfähig, weil Aussagen über das Bewußtsein immer auf nicht objektivierbarer Introspektion beruhten.

In seiner Nachfolge wurde alles Mentale, Bewußtseinsmäßge in Kategorien beobachtbaren Verhaltens gefaßt. Ineins damit aber auch alles Kulturelle und Soziale in „Reizkonfigurationen“ aufgelöst.

Noam Chomskys 1959 erschienene Rezension von Skinners „Verbal Behavior“ leitete dann die sog. „kognitive Wende“ ein. Sprache lässt sich nicht einfach durch „operante Konditionierung“ lernen, es bedürfe einer vorgegeben kognitiven Struktur, in der die grammatischen Grund- und Transformationsregeln aller möglichen Sprachen hinterlegt seien. Der Blick richtete sich nun wieder auf den „Geist“, das „Mentale“.

Wenn man einen großen Schritt zurücktritt, hört man das Echo eines Dialogs zwischen John Locke und Gottfried Wilhelm Leibniz am Ende des 17. Jahrhunderts:  Locke: „Nichts ist im Verstande, was nicht zuvor in den Sinnen war“ – Antwort Leibniz’ „außer dem Verstande selbst“.[7]

Aber dieser aus der „Black-Box“ befreite „Geist“ war weniger substanzhaft[8] gedacht, sondern erst einmal funktional. Es findet ein Wechsel in den Metaphern der Theoriebildung statt: nicht mehr von „Reiz-Reaktion-Ketten“ und „Reflexbögen“, sondern von „Input“ – „Output“ und „Informationsverarbeitung“ ist die Rede.

Das technisch avancierteste Modell der Informationsver­arbeitung waren Computer, womit sich das „Computermodell des Geistes“ zum leitenden Theorie- und Sprach-Paradigma der „Cognitive Sciences“ entwickelte:

„Damit ist die These gemeint, dass das Gehirn ein informationsverarbeitendes System sei und prinzipiell wie ein Computer arbeite. Die Unterscheidung zwischen Geist und Gehirn lasse sich analog zu der Unterscheidung zwischen Software und Hardware verstehen. So wie die Software durch Datenstrukturen und Algorithmen bestimmt sei, sei der Geist durch mentale Repräsentationen und Rechenprozesse bestimmt. So wie die abstrakte Beschreibung der Software möglich ist, ohne direkt die Hardware zu untersuchen, sollte eine abstrakte Beschreibung der geistigen Fähigkeiten möglich sein, ohne direkt das Gehirn zu untersuchen. Und so, wie die Existenz einer Softwareebene problemlos mit dem Materialismus zu vereinbaren ist, sollte auch die mentale Ebene in eine materialistische Interpretation eingebettet sein“ (Stichwort „Kognitionswissenschaft“, Wikipedia)

Trotz aller Erfolge in der Simulation intelligenten Verhaltens und der Entwicklung „künstlicher Intelligenz“ (AI bzw. KI) kam dieses Modell an seine Grenzen.

„Je mehr man über die Funktion des Gehirns herausfand, desto unplausibler erschien die Analogie zwischen Gehirn und Computer.“ (…) Ein klassischer PC verfügt „über einen zentralen Prozessor und eine serielle Architektur, das heißt alle Operationen werden der Reihe nach ausgeführt und zwar im Zentralprozessor“. Das Gehirn arbeitet dagegen parallel und hat statt eines zentralen Prozessors zahlreiche vernetzte Verarbeitungsregionen. Es wird nicht einmal die Unterscheidung von Hard- und Software benötigt. (vgl. Lenzen, M. 2002, 74)

Paradoxerweise waren es die technischen und mathematischen Entwicklungen eines „Computermodell des Geistes“, die es ermöglichten, den Unterschied zwischen Computer und Gehirn „technisch präzise“ zu fassen (vgl. ebd., 65f).

Kognitions- und Neurowissenschafen intensivierten ihre Liaison, insbesondere in den Bereichen, die sich nicht allein mit höherstufigen kognitiven Prozessen beschäftigten. Die Idee des „neuronalen Netzes“ war z.B. ursprünglich ein Konzept der Kognitionswissenschaft Ende der vierziger Jahre und wurde in den achtziger wieder aufgenommen. Ineins damit entwickelte die Neurowissenschaft technisch immer genauere und gering invasive Verfahren, zentralnervöse Prozesse am lebenden Organismus zu „beobachten“.

Zusammenfassend muß betont werden, dass die Erfolge der Neurowissenschaften sich einer Zusammenarbeit der Kognitionswissenschaft, Bioinformatik, Biophysik und –chemie und weiterer Disziplinen verdanken. Und aus dem vorher Ausgeführten sollte klar geworden sein, dass diese Wissenschaft – wie etliche andere auch – nicht einfach „Gegebenes“ „vorfindet“ und „beobachtet“, sondern Gegebenes nur im Rahmen „funktionaler Modelle“ zum Vorschein kommen lassen kann, die sich in „apparativen Anordnungen“ verkörpern.

Dass wir uns dabei in einem erkenntnistheoretischen Zirkel befinden ist auch den Neurowissenschaftlern klar (z.B. Singer, W. 2006). Das zu Erklärende – Gehirn / Geist als Objekt – und das Erklärende – Geist / Gehirn als (Forschungs)-Subjekt sind eins. Auch hier raunt im Hintergrund der alte Königsberger mit der Fragestellung nach den „Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, die er – also Kant – noch rein aus der Vernunft heraus zu beantworten suchte (transzendentale Deduktion), heute zeigt sie sich in empirisch verwandelter Form.

Innerhalb der Biologie ist dies gar nicht so neu: Jakob Johann v. Uexküll, Konrad Lorenz und Rupert Riedel beriefen sich auf Kant. Während dieser jedoch zwischen Erscheinungswelt – die Welt für das erkennende Subjekt – und dem dem Verstande unzugänglichen „Ding an sich“ unterschied, vermeinen die empiristischen Nachfolger diese erkenntnisunabhängige Welt zu kennen. Bei den benannten Neurowissenschaftlern ist es z.B. Gerhard Roth, der sich nicht nur als Reduktionist, sondern auch als radikaler Konstruktivist versteht. Er unterscheidet zwischen einem „wirklichen“ und einem „realen“ Gehirn (vgl. Brandt, D. 2006) : Das konkret erforschte „wirkliche“ Gehirn konstruiert ein ‚Ich’ und eine ‚Welt’, nämlich unsere subjektiv erfahrene Lebenswirklichkeit. Das Gehirn des Forschers und seine Welt, mitsamt der Konzeption des dort erforschten Gehirn, sind selbst aber wieder die Konstruktion einer – erkenntnisunabhängigen – „Realität“, die Roth– nach welchen Kriterien auch immer – als „reales Gehirn“ konzipiert. Roth fragt sich selbst: „Ist meine Theorie genauso ein subjektives Konstrukt wie alles andere?“ (Roth, G. 1996, 23)

Eine weniger polemische Zuspitzung müsste sich jedoch mit den systemtheoretischen Hintergründen dieses Ansatzes beschäftigen, z.B. der „operationalen Geschlossenheit“ des Gehirns und der „Auflösung“ von Zirkeln durch die Hierarchie von Beobachterperspektiven. Eine – hier nicht zu leistende – Auseinandersetzung hätte aber auch Folgen für unser Verständnis von systemischer Psychotherapie.

Wie auch immer, wir entwinden uns diesem Zirkel, machen jedoch wiederum auf den besonderen „Sachbezug“ (s.o.) aufmerksam, der sich einer speziellen, theoriefundierten, funktionsbezogenen und technisch-appa­ra­ti­ven „Zugangsweise“ zur vermeintlich (vor)gege­be­nen Realität verdankt.

Fast täglich zeigt sich dies an der oft gebräuchlichen Redeweise, wir könnten mittels „bildgebender Verfahren“ (z.B. fMRT) dem Gehirn oder gar dem Geist „bei der Arbeit zusehen“: Damit findet unreflektiert eine unmittelbare Identifizierung von Gehirn und Geist statt und man erliegt dem vermeintlichen „factum brutum“ des Bildes, während in Wirklichkeit – wie wir sehen werden – sich diese „schönen, bunten Bilder“ einem vermittelten und mathematisierten Prozesses verdanken (s. 5.1.).

Insgesamt ist für unsere Problemstellung darauf hinzuweisen – und das macht die Diskussion mitunter recht schwierig –, dass lebensweltliche und (natur)-wissenschaftliche Erfahrung nicht unmittelbar „anschlussfähig“ sind.

„Es besteht nämlich ein (epistemologischer – R.S.) Bruch zwischen der sinnlichen und der wissenschaftlichen Erkenntnis. Man sieht die Temperatur auf einem Thermometer; aber man empfindet sie nicht. Ohne eine Theorie wüsste man nie, ob das, was man sieht, und das, was man empfindet, demselben Phänomen entspricht.“ (Bachelard, G. 1980, 24)

Mit diesen Zwischenüberlegungen kehren wir nun wieder in den Umkreis der Diskussion um das „Manifest“ zurück.

 


[1] Es gab und gibt aber auch einen – gegenüber der Unterscheidung von Geist und Natur – indifferenten, neutralen Monismus, z.B. bei Spinoza, W. James und in jüngerer Zeit bei Helmuth Plessner (s. 5.1.) und Donald Davidson.

[2] Diese Erklären-Verstehen-Kon­tro­verse begann aber schon vor fast hundert Jahren: Windelbald / Rickert mit der Unterscheidung von „nomothetischen“ vs. „ideographischen“ Wis­sen­schaften; sie hat ihre Bedeutsamkeit heute noch als Impuls zur Methodenreflexion, z.B. in der Psychiatrie, Psychoanalyse und den Sozialwissenschaften.

[3] Wir folgen hier den Ausführungen Bernhard Waldenfels’ 1980, 129, vgl. auch, Ders. 1998 zur „sig­ni­kativen Differenz“. Forschungstheoretisch und -praktisch kommen wir darauf, unter dem Gesichtspunkt der „offenen“ und „geschlossenen Frage“ (Plessner), noch zurück; s. Abschn. 5.

[4] Die kontrastive Bestimmung gilt insgesamt für das „Leib-Seele-Problem“. Man kann Leib oder Seele, mental oder physisch, auch determiniert und frei gar nicht ohne Referenz auf das Gegenteil zureichend bestimmen; ausführlicher dazu Kupke, C. 2000.

[5] Analogie: das Bild zweier, unabhängiger, aber synchron laufender Uhren, z.B. bei Leibniz.

[6] Wir sprechen ausdrücklich nicht von „Verhaltenstherapie“, da diese viel mehr umfasst(e) als der klassische Behaviorismus.

[7] Chomsky nimmt selbst bezug auf die cartesianische Idee „eingeborener Ideen“. In diesem Kontext historischer Reprisen stände Watson für Pierre Gassendi.

[8] Das „Echo“ ist natürlich ein verzerrtes, weil Substanz bei Leibniz schon „auf dem Weg“ zur Vernunft Kants war. Das subjektum – das Zugrundeliegende – war dann das Subjekt (transzendentale Wende).

 

nächstes Kapitel ► 4. Determinismus und Freiheit

4.1. Das „Libet-Experiment“

4.2. Determinismus und Verantwortlichkeit - Ein „merkwürdiges“ Gespräch

4.3. Bedingte Willensfreiheit oder „was heißt, sich zu entscheiden?“

4.4. Das Gehirn denkt nicht – oder „das Gehirn ist genauso doof wie die Milz“

 

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