Rudolf Süsske:  „Zerebrale Gymnastik“ oder „können Neuronen traurig sein?“ Kursorische Anmerkungen zur Gehirn-Geist-Debatte

„Zerebrale Gymnastik“ oder „können Neuronen traurig sein?“ - Kursorische Anmerkungen zur Gehirn-Geist-Debatte

5. Forschungspraxen

5.1. Prinzip der „geschlossenen“ und „offenen Frage“ im Labor – Grade der Kontrolle

5.2. Methodische Konstruktion von Erkenntnis oder „alles so schön bunt hier“


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Heute sind es noch Geheimzeichen, morgen wird man vielleicht Geistes- und Hirnerkrankungen aus ihnen erkennen und übermorgen sich gar schon Briefe in Hirnschrift schreiben.   Düsseldorfer Stadt-Anzeiger 1930, anlässlich der Erfindung des EEG

5. Forschungspraxen - Produktionsstätten neurowissenschaftlichen Wissens

Erinnern wir uns unser Kantzitat, Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien und mit dem Experiment an die Natur gehen, in der Qualität eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt (gekürzt), so wollen wir an dieser Stelle das (Be)Fragen der Natur noch einmal aus der Nähe betrachten. Die medial geführte Diskussion um die enormen, unser Menschenbild verändernden Erfolge der Neurowissenschaften macht sich selten die Mühe, die theoretisch-methodischen Vorentscheidungen und apparativen Untersuchungsweisen eigens zu betrachten. Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT oder fMRI) mit ihren „schönen, bunten Bilder“ steht am (derzeitigen) Ende einer ganzen Reihe von Forschungsmethoden, die fast alle, aufgrund je spezifischer Vorteile, noch in der Forschung verwandt werden.

 

5.1. Prinzip der „geschlossenen“ und „offenen Frage“ im Labor – Grade der Kontrolle  

Vor diesem Hintergrund drei Beispiele, wie in der neurowissenschaftlichen Forschung „Forschungsobjekte“ in der Befragung konstituiert werden. Gesa Lindemann[1] (2005) unterscheidet – in Anschluss an Plessner (1931) – geschlossene und offene Fragen, die sich den Erkenntnismodi des Erklärens und Verstehens zuordnen lassen, ohne dass dies durch den „Gegenstandbereich“  (Natur vs. Geistiges/Soziales) vorgegeben wäre:

Im Prinzip der geschlossenen Frage

„wird konstitutiv festgelegt, als was ein zu untersuchender Gegenstand erscheinen und wie er auf die Forschungsfrage antworten kann.

a) Die Frage enthält einen Vorentwurf dessen, wie die Sache beschaffen ist.

b) Der Vorentwurf beinhaltet die Garantie der Beantwortbarkeit, d.h., durch die Frage ist festgelegt, dass die Sache auf die Frage antworten kann.

c) Der Vorentwurf ist so beschaffen, dass in der Frage die Garantie der Beantwortung enthalten ist, d.h., die Frage legt fest, wie die Frage beantwortet werden kann - genauer: durch welche Erscheinung, durch welches in der Fragekonstruktion angegebene Datum, die Sache auf die Frage antworten kann.

Eine Forschung gemäß dem Prinzip der geschlossenen Frage erfordert eine maximale Kontrolle des Erkenntnissubjekts über das Erkenntnisobjekt“ (Lindemann, G. 2005, 7f).

Das Prinzip der offenen Frage

„ähnelt dem Prinzip der geschlossenen Frage darin, dass es sich um eine Frage im Rahmen eines theoretisch konstruierten Problementwurfs handelt. Der Unterschied besteht darin, dass nicht festgelegt ist, wie der Gegenstand auf die Frage antworten kann.

a) Die Frage enthält einen Vorentwurf dessen, wie die Sache beschaffen ist. (…) Es geht nicht darum, dem Gegenstand die Führung zu überlassen, sondern die Führung erhält bei einem wissenschaftlichen Vorgehen weiterhin der Vorentwurf der Sache, der in der Frage enthalten ist.

b) Der Vorentwurf beinhaltet die (…) Beantwortbarkeit, d.h., durch die Frage ist festgelegt, dass die Sache auf die Frage antworten kann.

c) Der Vorentwurf ist aber nicht so beschaffen, dass in der Frage schon die Garantie der Beantwortung festgelegt ist, d.h., durch die Frage wird keine Erscheinung festgelegt, deren Auftreten als Antwort auf die Frage verstanden werden muss. An dieser Stelle liegt die Relevanz der Deutung“ (ebd., 8f).

Das naturwissenschaftliche Experiment folgt dem Prinzip der geschlossenen Frage und reduziert Erscheinungen auf mathematisierbare und messbare Daten. In die Erkenntnisrelation der offenen Frage wird dem Objekt ein Freiraum eingeräumt „sein Erscheinen zu gestalten“ (vgl. ebd., 9). Befragungen, Interviews und Feldforschung i.w.S. können hier als Beispiele gelten, selbst psychologische Experimente (vgl. Mertens, W. 1975) und psychiatrische Diagnosen (vgl. Streeck, U. 2004) beinhalten für das „Objekt“ einen Spielraum des Erscheinens. Menschen verhalten sich zu sich in der Situation mit Motiven, Interpretationen, Antizipationen von Erwartungen etc.. Aber auch Verhaltensformen höherer Tieren (s. 5.1.3) sind „Ausdruck verschiedener Stellungnahmen des Organismus zur Umwelt“ (Goldstein, K. 1934, 310). Damit ist das „beobachtete Phänomen“

„jetzt ein Datum, das auf etwas verweist, das selbst nicht direkt erscheint, das sich aber durch dieses Datum zeigt. Das sich im Phänomen von sich aus Zeigende kann nicht mehr beobachtet, es muss verstanden werden“ (Lindemann, G. 2005, 9).

Der formalen Struktur der o.g. Frageprinzipien entsprechen in Lindemanns Ausführungen konkrete tierexperimentelle Forschungsweisen, gegliedert unter dem Gesichtpunkt von „Grade(n) der Kontrolle“ (ebd., 13):

 

─   „Slices“ (vgl. ebd.): Ein Maximum an Kontrolle ermöglichen Experimente mit Nervenzellgewebsscheibchen (sog. „slices“) oder kleineren Zellverbänden, wobei der Gegenstand vom Organismus isoliert wird und alle Parameter optimal in der 3. Person-Perspektive kontrollierbar sind. Die Versuchstiere (zumeist Mäuse) werden dabei in der Regel getötet.

Der gelebten Wirklichkeit näher ist es, am Gehirn in einem lebenden Organismus mit den Mitteln der invasiven Elek­trophysiologie zu arbeiten. Dabei lassen sich, in Abwägung forschungspraktischer und ethischer Überlegungen, Untersuchungen an narkotisierten und wachen „Probanden“ unterscheiden.

 

─   (vgl. ebd., 13f) Bei „narkotisierten Probanden“ – zumeist Katzen – wird die Integration in die Experimentalanordnung weitergehend kontrolliert. Die Narkose schließt die Selbstempfindung, Schmerzreize und physiologische Stressreaktionen des Organismus aus, zudem werden gezielte oder reflektorische Bewegungen ausgeschlossen.

„Wenn das Sehsystem untersucht wird, wird (…) der Kopf des Probanden in einen stereotaktischen Rahmen eingespannt und durch eine mechanische Kontrolle ausgeschlossen, dass die Augenlider des Probanden die Augen verschließen. Auf diese Weise wird die Beantwortbarkeit der Frage garantiert, denn es ist nahezu ausgeschlossen, dass der visuelle Reiz nicht im Gehirn des Probanden ankommt. (…) Bei der praktischen Durchführung steht zunächst einmal im Mittelpunkt, ob es gelingt, ‚die Zellen zu treiben’, d.h. herauszufinden, ob und wie die elektrische Aktivität der Zellen, die als Signal abgeleitet wird, mit der Veränderung der Reize variiert. (…) Entsprechend kann direkt nachvollzogen werden, ob die Zellen ‚antworten’“ (ebd.).

 

─   (vgl. ebd., 15f) Am weitesten ist die Kontrolle bei „wachen Probanden“ zurückgenommen. Bei Experimenten zur Wiedererkennung, in denen das „kognitive System“ oder „Bewusstsein“ gefragt ist, werden Affen Bilderfolgen von Früchten dargeboten. Je nachdem, ob das folgende Bild dem vorangegangen gleicht oder nicht, muß der Proband einen linken oder rechten Hebel drücken. Zunächst erfolgt eine Trainingsphase, wobei „richtige“ Aktionen belohnt werden. Dann beginnt die eigentliche Versuchsphase. Dabei geht die Kontrolle des Körpers nur soweit, „dass es dem Probanden verunmöglicht wird, sich vom visuellen Stimulus abzuwenden“. Dem Tier wird aber die Kontrolle über seine Sinnesorgane erhalten; es kann die Augen selbst öffnen und schließen. Andererseits wird der Kopf mechanisch fixiert, um die Ableitungen sicher vornehmen zu können. Dafür wird es in einen sog. 'Affenstuhl' gesetzt. Bei der vorliegenden experimentellen Fragestellung, die kognitive Funktionen betrifft, kann die „Eigenaktivität“ nicht so wie bei narkotisierten Probanden eingeschränkt werden.

„Hier kommt noch etwas anderes ins Spiel: Die Selbststeuerung des Organismus. Dies hat zwei wesentliche Implikationen: Der Proband muß verstehen, was von ihm erwartet wird und er muss dazu motiviert werden, am Experiment teilzunehmen. D.h., die Integration in die Experimentalanordnung beinhaltet eine Selbstintegration“ (ebd., 15).

Damit der Proband auf die Exposition der Bilder „reagiert“, dh. den „richtigen“ Hebel drückt, muß er motiviert werden. D.h. die Leistung der Vermittlung von eigenem inneren Zustand und Situation leistet das Tier selbst. Innerer Zustand steht dabei für die Motivation des Tieres: ob es durstig, gereizt oder müde. Mit entsprechendem Verhalten kann es diesen Zustand verändert. Im Sinne der Beeinflussung dieser Selbststeuerung wird das Tier  von den Forschern durstig gemacht, um ein bestimmtes Verhalten anzuregen, das sich in die experimentellen Fragestellung integrieren lässt. Kon­kret: für das richtige Hebeldrücken gibt es Wasser.

„Arbeitet“ ein Proband nicht gut genug mit, muß dieses störende Verhalten interpretiert, „erdeutet“ (ebd., 16) werden. Manche Tiere suchen sich z.B. anderswo Wasser. Dabei ist die gegenläufige Zweck-Mittel-Relation von Probanden und Forscher sehr bedeutsam. Für die Experimentatoren bedeutet der Wasserentzug ein Mittel zum Zweck, ein bestimmtes Verhalten zu evozieren, das Rückschlüsse auf die kognitive Funktion der Wiedererkennung zulässt. Für das Tier gilt es, Mittel und Möglichkeiten zu finden, seinen Durst zu löschen. Diesen Zweck erfüllt die  Wassersuche im Käfig gleichermaßen wie das Hebeldrücken nach vorheriger Konzentration auf die Bilderfolge.

So wie für das Tier die Experimentalsituation nicht einfach einen „Stimulus“ darstellt, sondern nur einen Ausschnitt seiner „Umwelt“, müssen auch die Forscher die „Lebenssituation“ des Probanden (außerhalb des Experiments, Gruppenverhalten etc.) in die Interpretation seines Verhaltens einbeziehen.

„Dass es für das Experiment unerlässlich ist, den bewussten Organismus zu verstehen, kommt auch darin zum Ausdruck, wie auf das Lernen des Probanden referiert wird. Die offizielle Bezeichnung lautet ‚operantes Konditionieren’. In dieser behavioristischen Version des Lernens kann auf die Annahme eines Bewusstseins weitgehend verzichtet werden. Bei der Beschreibung der praktischen Erfahrungen mit dem Organismus, dem sie eine Aufgabe beibringen, greifen Experimentatoren und technische Assistentinnen aber immer wieder zu einem Vokabular, das die kognitive und emotionale Dimension des Vorganges hervorhebt“ (ebd., 18).

Ob Affen dabei wirklich über eine „Theory of Mind“ (ein Fremdverstehen) und über Selbst­bewusstsein oder gar einen „freien Willen“ verfügen, bleibt dabei offen. „Eigensinn“ haben sie auf jeden Fall (vgl. ebd., 18f).

 

─   Wir wählten diese Beispiele, um deutlich zu machen, dass schon in der (Erkenntnis)Beziehung zu unseren „evolutionären Verwandten“ die strikte Trennung von kausal-mechanischem Erklären und Sinn-Ver­stehen nur in Hinsicht auf die je besondere sozial vermittelte, methodische Produktion von Wissen beizubehalten ist. Wir erinnern auch noch einmal an die „halbierte Reflexion“, auf die Stegmeier hinwies:

 „wird doch nur der Gegenstand ‚als solcher’ konzipiert, nicht aber der Umstand, dass die Anordnung zutiefst und mannigfaltig durchwoben ist von der sozialen Ordnung, in deren Rahmen die Forscher und die Beforschten samt ihren Körpern und Apparaturen agieren und interagieren“ (2005, 111).

Die Spezies der Probanden, deren Zustände, Verhaltens- und Reaktionsspielräume und die je besonderen Um- bzw. Lebenswelten sowie Möglichkeiten der Interpretation der Situation spielen eine Rolle.

Wenn wir von den Erfolgen der Neurowissenshaften sprechen, sollten wir zudem nicht vergessen, dass an ihnen zigtausende Tiere „beteiligt“ waren.

 

»Ihr Arzt weiß jetzt, was Sie denken.«  
(Werbespruch eines Herstellers von MRT-Hirnscannern)

5.2. Methodische Konstruktion von Erkenntnis oder „alles so schön bunt hier“ 

Tierexperimente haben keinen „guten Ruf“, obgleich wir ihre Erkenntnisse gern in Anspruch nehmen. Gleichwohl zeigt sich hier eine Empathie, die Mentales (Schmerzempfindung) bei den tierischen „Probanden“ unterstellt.

Umso euphorischer werden Methoden betrachtet, die weniger oder überhaupt nicht invasiv sind. Nach dem Hinweis auf die „neuen bildgebenden Verfahren“ folgen dann Schlagworte wie: Mach dir ein Bild vom Hirn - Wie Denken aussieht (FAZ 31.01.04). Dazu ein Vertreter der wissenschaftlichen Zunft:

 „Die suggestive Kraft der bunten Hirnbilder ist verführerisch. Auf farbenfrohen Darstellungen kann jedermann die Orte der strukturellen oder funktionellen Hirnauffälligkeiten von Schlauen oder Dummen, ortskundigen Taxifahrern, geschickten Jongleuren, frommen Nonnen, liebenden Partnern oder schuldunfähigen Mördern betrachten. Eine tiefer gehende Fachkenntnis scheint dafür zunächst nicht nötig zu sein – Hingucken reicht. Doch die Evidenz der Bilder ist trügerisch. In Wirklichkeit handelt es sich um komplexe mathematische Konstrukte“ (Tebartz van Els, L. 2007, u.a. Leiter der Sektion Experimentelle Neuropsychiatrie an der Universitätsklinik Freiburg).

 

─  Bevor wir uns jedoch den Bildproduktionsprozess des fMRTs, der funktionellen Magnetresonanztomographie, ansehen, noch einen Verweis auf die die Integration des Körpers in die apparative Anordnung. Regula Burri formuliert das formal in Anlehnung an Foucaults Disziplinierungsbegriff:

Der „technisch vermittelte Blick in den Körper setzt nicht nur den Einsatz entsprechender Visualisierungsapparate voraus, sondern impliziert die Anwendung einer Vielzahl von Techniken und Verfahren, mittels derer die Körper für die Bildaufnahme hergerichtet und diszipliniert werden. Die Herstellung eines medizinischen Bildes setzt spezifisch geformte und sich verhaltende Körper, ‚unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper’ voraus“ (Burri, R. 2003, 4).

Die „Röhre“ des sehr großen MRTs-Geräts ist relativ eng und führt – insbesondere bei Ganzkörper-Scans – gar nicht so selten zu klaustrophobischen Zuständen. Kopfbewegungen und  Sprechen sind beim „Hirnscan“ nicht erlaubt, da sie die Daten „verfälschen“. Zudem können die Geräte sehr laut sein. Um den Untersuchten herum oder in einem Nebenraum Monitore und andere Messgeräte sowie sich frei bewegendes Personal (vgl. ebd., 7ff). Innerhalb der Lebenssituation und dem Handlungsverlauf der „Probanden“ oder „Patienten“ kann der Scan mit durchaus differenten Gefühlen, Bewertungen und Interpretationen verbunden sein.

Bei der nicht-kurativen Untersuchung von kognitiven Funktionen oder Gefühlen müssen die lebensweltlichen Situationen und Begegnungen in zumeist optische oder akustische „Stimuli“ verwandelt werden. Die physische und emotionale Präsenz z.B. einer Person, der ich in einem besonderen räumlichen, sozialen und lebensgeschichtlichen Situation gegenüberstehe, wird auf Bilder und Töne reduziert und aus dem Kontext isoliert.

 

─  Nun aber von den „Stimulusbildern“ zu den „Hirnbildern“ (vgl. Schleim, S. 2008, 39-67; Elst, L. T. van 2007 u.a.). Die funktionelle Kernspintomographie – griech.: tomós Schnitt, gráphein schreiben, abgekürzt fMRT oder engl. fMRI arbeitet messmethodisch mit den magnetischen Eigenschaften von Atomteilchen: Jedes Wasserstoffatom hat eine Eigenbewegung (Kern-Spin), die ein minimales Magnetfeld erzeugt. In natürlicher Umgebung heben sich die vielen, kleinen Felder gegenseitig auf. Mit den großen Magneten im fMRT-Gerät werden die kleinen Felder ausgerichtet und mit einem elektromagnetischen Impuls verstärkt. Damit geraten die Atomkerne kurzzeitig in einen erhöhten Energiezustand. Die Zeit, in der die Kerne in ihren ursprünglichen Zustand zurückkehren, lässt sich messen und hängt von der umgebenden Substanz (Blut, Gewebe, Knochen) ab. Nachdem man feststellen konnte, dass bei erhöhter Gehirnaktivität der Sauerstoffgehalt des Blutes in der entsprechenden Region steigt, machte man sich die unterschiedlichen mag­netischen Eigenschaften von oxygeniertem und desoxygeniertem Blut zu nutze.[2] Ergebnis ist das sog. BOLD (Blood Oxygen Level Dependency) -Signal, das aber auch interpretiert werden muß (vgl. Schleim, S. 2008, 45f).

Langsamere BOLD-Antworten sprechen für höheren Sauerstoffgehalt und damit für Hinraktivität. Diese Informationen lassen sich grafisch darstellen. Das Gehirn kann in 34 Schichten aufgenommen und insgesamt in 139.264 Bildpunkte (Voxel) aufgelöst werden (vgl. ebd., 42f). Ein Bildpunkt misst dabei 27 qmm . Zur Beurteilung der räumlichen Auflösung: in einem Voxel, je nach Ort im organischen Substrat, befinden sich ca. eine halbe bis drei Millionen Neuronen pro Messung und entsprechend ein einziger Mittelwert.

Die Messungen erfolgen in der Regel alle 2 Sek., wobei der „Ort“ nicht verschoben werden darf, was die Fixierung der Probanden (s.o.) zur Voraussetzung hat. Da bei den hier in Frage stehenden Experimenten mehrere Durchgänge einzelner Vpn und Gruppenuntersuchungen notwendig sind, müssen unwillkürliche Bewegungen, individuelle Unterschiede in den Gehirnen und andere Störvariablen statistisch „korrigiert“ werden. Gleichwohl ist das erste grafische Ergebnis des bildgebenden Verfahrens eine „graue Wolke ohne jede Bedeutung“ (vgl. ebd., 52).

Für die Frage, wo gibt es Hirnaktivität bei einer bestimmten „mentalen Aktivität“ der Vpn – z.B. das Sehen eines Hauses  – müssen Expositionszeitpunkt eines „Haus“-Bildes und BOLD-Antwort korreliert werden. Es bedarf dazu einer Vielzahl von Wiederholungen, da möglicherweise viele Hirnareale „im Spiel sind“ und nur über stabile Mittelwerte eine eindeutige Zuordnung möglich ist.

Wenn eine Vpn z.B. ein Haus sieht, denkt sie an „zuhause“, an die Menschen dort, und andere Bereiche des Hirns werden aktiviert. Diese „Nebenwirkungen“ müssen „herausgefiltert“ werden. Zudem dürfen Werte, die den Mittelwerte ergeben, nicht zu stark voneinander abweichen. Außerdem bedarf es Vergleichsuntersuchungen, ob es sich um einen spezifischen, trennscharfen Zusammenhang zwischen Exposition und „Hirnantwort“ handelt: wird wirklich eine spezifische „Haus-Wahr­nehmung“, eine „Rechteck-“ oder nur allgemein eine „visuelle Wahrnehmung“ erfasst? (vgl. ebd., 52)

Bei der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung für „Bewusstseinskorrelate“ sollte man auch immer nach der Repräsentativität der Vpn fragen. Zumeist sind es junge StudentInnen. Altersfragen und Mentalitätsunterschiede spielen außerhalb klinischer Studien keine Rolle. Fazit des Praktikers Tebartz van Elst:

„Vor dem Versprechen, das Rätsel des menschlichen Geistes könne durch die Neurowissenschaft gelöst werden, sei gewarnt. Bei genauer Betrachtung ist die Neurobiologie weit davon entfernt, die Komplexität von Lebensphänomenen wie Bewusstsein, Freiheit, Liebe oder Glück aufzulösen. Viele Arbeiten, die sich solchen Phänomenen der höchsten mentalen Eigenschaften von Lebewesen zuwenden, können dies nur tun, indem sie das untersuchte Phänomen auf Teilaspekte reduzieren, etwa indem meditative Erlebnisse mit Religiosität oder das Betrachten von Bildern eines geliebten Menschen mit romantischer Liebe gleichgesetzt werden. (…) Solchen Auswüchsen muss die forschende Neurowissenschaft entgegentreten – will sie nicht in 50 Jahren ähnlich verspottet werden wie heute die Phrenologie des 19. Jahrhunderts“ (ebd.).

 


[1] Lindemanns Arbeit ist „der soziologisch-empirischen Wissenschaftsforschung zuzuordnen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die praktischen Details der Wissensentstehung, d.h. die alltägliche Forschungspraxis, speziell in den Naturwissenschaften herauszuarbeiten. Die untersuchten Wissenschaften geraten dadurch in den Status einer fremden zu erforschenden Kultur“(10). Die Wahrheit der Forschungsergebnisse steht dabei nicht zur Diskussion.

[2] In Tierversuchen wurde die Validität des fMRTs durch Vergleich mit direkten, invasiven Ableitungen überprüft (vgl. Schleim, S. 2008, 47).

 

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6. Neuro-basierte Psychiatrie u. Psychotherapie
– „Schauen wir lieber mal direkt ins Gehirn“
7. Schluss – oder "jeder muss sein Gehirn selbst in die Hand nehmen"

 

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