Rudolf Süsske:  „Zerebrale Gymnastik“ oder „können Neuronen traurig sein?“ Kursorische Anmerkungen zur Gehirn-Geist-Debatte

„Zerebrale Gymnastik“ oder „können Neuronen traurig sein?“ - Kursorische Anmerkungen zur Gehirn-Geist-Debatte

 

2. Das „Manifest“


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Was unser Bild von uns selbst betrifft, stehen uns in sehr absehbarer Zeit be-trächtliche Erschütterungen ins Haus. (Elger, C.E. et al. 2004)

2. Das „Manifest“   

Ausgangspunkt vieler Medienbeiträge und wissenschaftlicher Diskussionen war das 2004 publizierte „Manifest“ elf führender NeurowissenschaflerInnen „über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung“ (Elger, C.E. et al. 2004), auf das sich auch Tretter bezieht. Kontextuiert wurde dies Ereignis durch die Ausrufung einer „Dekade des Gehirn“ in den USA im Jahr 1990. In Deutschland wurde für die Zeit von 2000 bis 2010 eine vergleichbare Initiative ins Leben gerufen.. Anlass zur Kritik bzw. Euphorie waren aber nicht so sehr die konkreten Forschungsergebnisse der – oft schon seit Jahrzehnten arbeitenden – Wis­sen­schaftlerInnen, sondern der Anspruch der „Neurowissenschaften“, ein neues „Welt- und Menschenbild“ zu etablieren. Insbesondere einige Protagonisten – so Gerhard Roth und Wolf Singer – provozierten die Öffentlichkeit mit ihrer These einer (neurophysiologischen) Determiniertheit allen menschlichen Verhaltens und Erlebens sowie der Schlussfolgerung, menschliche Freiheit sei nichts anderes als eine Illusion. Die Philosophie habe schon immer ein „Empirie-Defizit“ ausgezeichnet und von den Sozial- und Kulturwissenschaften war erst gar nicht die Rede, da die keine „echte“, dh. Naturwissenschaft, betrieben. Gleichwohl wurden „Interdisziplinarität“ und „Dialog“ beschworen.

Doch sehen wir uns erst einmal das „Manifest“ genauer an. Einleitend heißt es:

„Grundsätzlich setzt die neurobiologische Untersuchung des Gehirns auf drei verschiedenen Ebenen an. Die oberste erklärt die Funktion größerer Hirnareale, beispielsweise spezielle Aufgaben verschiedener Gebiete der Großhirnrinde, der Amygdala oder der Basalganglien. Die mittlere Ebene beschreibt das Geschehen innerhalb von Verbänden von hunderten oder tausenden Zellen. Und die unterste Ebene umfasst die Vorgänge auf dem Niveau einzelner Zellen und Moleküle. Bedeutende Fortschritte bei der Erforschung des Gehirns haben wir bislang nur auf der obersten und der untersten Ebene erzielen können, nicht aber auf der mittleren.“ (Elger, C.E. et al. 2004, 30)

Später folgt eine selbstkritische Einschränkung, was die Hirnforschung (noch) nicht kann:

„Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, dass unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere Tun als »seine« Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige Aktionen plant, all dies verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen. Mehr noch: Es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könnte. In dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern.“ (ebd., 33)

Unter der Kapitelüberschrift „Die Natur des Geistes“ ändert sich jedoch die Tonlage und der Erklärungsanspruch wird behauptender:

„Wir haben herausgefunden, dass im menschlichen Gehirn neuronale Prozesse und bewusst erlebte geistig-psychische Zustände aufs Engste miteinander zusammenhängen und unbewusste Prozesse bewussten in bestimmter Weise vorausgehen. Die Daten, die mit modernen bildgebenden Verfahren gewonnen wurden, weisen darauf hin, dass sämtliche innerpsychischen Prozesse mit neuronalen Vorgängen in bestimmten Hirnarealen einhergehen – zum Beispiel Imagination, Empathie, das Erleben von Empfindungen und das Treffen von Entscheidungen beziehungsweise die absichtsvolle Planung von Handlungen. Auch wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, können wir davon ausgehen, dass all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind.(…) Geist und Bewusstsein – wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden – fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht. Und: Geist und Bewusstsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet. Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis der modernen Neurowissenschaften.“ (ebd.)

Nachdem der Determinismus mit der Redewendung vom „Vorangehen“ neuronaler vor psychisch-erlebnismäßigen Prozessen etabliert ist, steht zum Ende hin die Identität „Geist = Gehirn“ fest. Die Forderung eines neuen „Menschenbilds“, nebst entsprechender Sprachregelungen für die „breite Bevölkerung“, folgt auf dem Fuße.

„Auf lange Sicht werden wir dementsprechend eine »Theorie des Gehirns« aufstellen, (…) Dann lassen sich auch die schweren Fragen der Erkenntnistheorie angehen: nach dem Bewusstsein, der Ich-Erfahrung und dem Verhältnis von erkennendem und zu erkennenden Objekt. Denn in diesem zukünftigen Moment schickt sich unser Gehirn ernsthaft an, sich selbst zu erkennen. 

Dann werden die Ergebnisse der Hirnforschung, in dem Maße, in dem sie einer breiteren Bevölkerung bewusst werden, auch zu einer Veränderung unseres Menschenbilds führen. Sie werden dualistische Erklärungsmodelle – die Trennung von Körper und Geist – zunehmend verwischen. (…) Was unser Bild von uns selbst betrifft, stehen uns in sehr absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus. Geisteswissenschaften und Neurowissenschaften werden in einen intensiven Dialog treten müssen, um gemeinsam ein neues Menschenbild zu entwerfen.“ (ebd., 36f)

Der Schluss mutet wie eine Coda eigentümlichen Unbehagens – sich vielleicht doch zu weit vorgewagt zu haben – an. Sachlich ist es ein Widerspruch zum vorangehenden Text.

„Aller Fortschritt wird aber nicht in einem Triumph des neuronalen Reduktionismus enden. Selbst wenn wir irgendwann einmal sämtliche neuronalen Vorgänge aufgeklärt haben sollten, die dem Mitgefühl beim Menschen, seinem Verliebtsein oder seiner moralischen Verantwortung zu Grunde liegen, so bleibt die Eigenständigkeit dieser »Innenperspektive« dennoch erhalten. Denn auch eine Fuge von Bach verliert nichts von ihrer Faszination, wenn man genau verstanden hat, wie sie aufgebaut ist. Die Hirnforschung wird klar unterscheiden müssen, was sie sagen kann und was außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs liegt, so wie die Musikwissenschaft – um bei diesem Beispiel zu bleiben – zu Bachs Fuge einiges zu sagen hat, zur Erklärung ihrer einzigartigen Schönheit aber schweigen muss.“ (ebd., 37)

Gilt also die Gleichsetzung von Gehirn und Geist doch nicht „so ganz“? Was für die Bach’sche Fuge, sollte nicht auch für den Menschen gelten?[1] Doch bevor wir weitergehen, der Versuch, die Bedeutung einiger verwendeter Begriffe und ihren Problemhorizont zu skizzieren.

 

nächstes Kapitel ► 3. Begriffsklärungen

3.1. Dualismus vs. Monismus, Sachbezug und Zugangsweise

3.2. Erkenntnisform (Natur)-Wissenschaft

3.3. Das „Bieri-Trilemma“

3.4. Cognitive Sciences und Neurowissenschaften


[1]  So Wolfgang Prinz (Kognitionspsychologe), der sich zwar als Determinist – „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.“ (2003, 19) – versteht, aber einen naturalistischen Reduktionismus ablehnt, vgl. Elger, C.E. et al. 2004, 35.

 

 

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