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Spätfolgen von
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siehe
dazu: |
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1. 2. 3. 4. 5. |
Themenstellung Die Familie Ort der Gewalt Ausmaß, TäterInnen und Umstände sexueller Gewalt gegen Jungen Langzeitfolgen des sexuellen Missbrauchs Der "Zirkel der Gewalt" |
6. 7. 8. 9. |
Exkurs zum Trauma-Begriff Weitere Spätfolgen im Kontext des Trauma-Begriffs Theorien der Trauma-Verarbeitung Salutogenese - Therapie Unterstützung Anhang, Anmerkungen mit Literatur |
Herzlichen Dank für die Einladung ... ... "Kein sicherer Ort?" der Titel meines Vortrages spielt mit dem Doppelsinn von Wohnungslosigkeit und der klinischen Erfahrung mit Traumapatienten, die in sich einen "sicheren Ort" finden müssen, von dem aus sie sich der Bearbeitung des Traumas & seiner Folgen stellen können.
Obgleich wir es in unserer klinischen Tätigkeit auch mit Männern als Opfer traumatisierender Erfahrungen zu tun haben (jedoch in geringerem Ausmaß), ist doch das öffentliche Bewußtsein zumeist von der Gleichsetzung "Männer = Täter" bestimmt - oder wie Ursula Enders dies Ende der 80iger Jahre schon formulierte: "Jungen sind keine Opfer! Opfer sind weiblich!" (1) Zu dieser Sicht möchte ich hier vorerst nur sagen: Es gehört zur menschlichen Natur, zur "condition humaine" von Mädchen & Jungen / Frauen & Männern, traumatisierbar zu sein. Das gesellschaftlich und individuell wirksame Rollenstereotyp vor dem das "männliche Opfer" wie ein kulturelles Paradox erscheint (2) - prägt jedoch nicht nur die spezifischen Reaktionsweisen der Betroffenen. "Die überwiegende Zahl des sozialen, pädagogischen, therapeutischen, juristischen und medizinischen Fachpersonals verharmlost (noch) die an Jungen und Männern begangenen gewalttätigen Übergriffe oder weigert sich, diese überhaupt wahrzunehmen. (...) Männliche Opfer scheinen Beratern und Therapeuten Angst zu machen, weil sie eine dunkle Seite des Helfers berühren: die eigene Erfahrung des Sich-zur-Verfügung-Stellens. Die Helfer wollen die Opfer nicht sehen, weil sie selbst nicht mit ihrer eigenen schwachen - als weiblich denunzierten - Seite gesehen werden wollen" - so der Männerforscher Hans-Joachim Lenz (3) In den
folgenden Ausführungen möchte ich Ihnen einige
wissenschaftliche Forschungsergebnisse und Erklärungsmodelle
vorstellen, die sich fast ausschließlich auf Jungen bzw.
Männer beziehen und sich wesentlich mit den Folgen
sexueller Traumata beschäftigen.
Wer von psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt spricht, darf von der Familie nicht schweigen. Nur ganz kurz: In einem Drittel aller deutschen Ehen kommt es zu gewalttäigen Auseinandersetzungen zwischen den Partnern; die Zahl der Kindesmisshandlungen schwankt je nach Studie - zwischen 80.000 und 400.000. Die Bundesregierung spricht von ca. 150.000 Fällen von sexueller Ausbeutung von Kindern pro Jahr (4). Was die Familie für Gewalt & Traumatisierung so anfällig macht, ist gleichzeitig das, was sie positiv auszeichnet: # Das
Zusammenleben verschiedener Geschlechter und
Generationen, Kinder benötigen emotionale Nähe und Zärtlichkeit, verläßliche und tragende Beziehungen, Freiräume & Grenzen, Herausforderungen zur Selbst- und Welterfahrung ohne Überforderung oder gar Ausbeutung. Ohne auf die Ursachen hier eingehen zu können, müssen wir aber feststellen, daß Kinder vernachlässigt und ihr aufkeimendes Selbstbewußtsein entwertet wird. Wievielen Erwachsenen klingt es noch heute in den Ohren: "das kannst du doch sowieso nicht" oder "es wäre besser, du wärst besser gar nicht geboren". Kinder werden eingesperrt, geschlagen, missbraucht und emotional ausgebeutet. In der
Bundesrepublik Deutschland erleiden 6 - 62% der Mädchen
und 3 - 31% der Jungen sexuelle Übergriffe (6). Auch bei den
Jungen stammen 57 84% der Täter & Täterinnen
aus ihrem unmittelbaren Umfeld (7).
3. Ausmaß, TäterInnen und
Umstände Bis in die 80iger Jahre blieb sexueller Missbrauch an Jungen in der Forschung weitgehend unbeachtet; es gibt relativ wenige autobiographische Berichte. Männer sprechen kaum über das, was ihnen widerfahren ist. Auf die Gründe werden wir noch eingehen. Wie groß
genau nun diese Gruppe auch sein mag wir nannten
die Zahlen zwischen 3 und 31% - jeder Einzelne trägt
Verletzungen davon, die sein weiteres Leben beeinträchtigen
und in vielen Fällen zu dem führen, was der
amerikanische Psychiater Shengold "Seelenmord"
nannte. Jungen sind besonders gefährdet, wenn in den Familien mindestens ein leiblicher Elternteil insbesondere der Vater fehlt. Insgesamt sind zerrüttete Familienverhältnisse "broken homes" wie es in der angloamerikanischen Literatur heißt der Nährboden für Missbrauch & Gewalt. Emotional vernachlässigte Kinder sind jedoch gerade aufgrund ihrer Bedürftigkeit nach Anerkennung, Nähe und Zärtlichkeit auch anfällig für außenstehende Täter (11). Diese Konstellation macht die Interpretation der psychischen & sozialen Langzeitfolgen recht schwierig, da eine exakte Zuordnung von Ursache zu Wirkung eindeutig kaum möglich ist. Der einfache Umkehrschluß von Symptomen auf eine Ursache ist nicht zulässig. Immer wieder tauchen in der öffentlichen Diskussion einfache Erklärungsmuster auf - z.B. Eßstörungen oder Selbstverletzendes Verhalten seien immer Folgen von Missbrauch. Aber es sind jeweils vielfältige Faktoren, die hier zusammenklingen. Menschenschicksale / Lebensgeschichten sind vergleichbar, aber nie identisch, jeder Mensch ist eine Unikak, ein "Kunstwerk" wie der Psychoanalytiker Michael Balint es einmal formulierte.
Kommen wir nun nach dieser methodischen Warnung - zu den Langzeitfolgen insbesondere des sexuellen Missbrauchs. Ich möchte hier einige Aspekte vorerst deskriptiv herausgreifen (12): Aus
Befragungen erwachsener Männer, wie sie selbst
die Folgen von sexuellen Übergriffen in ihrer Jugend bewerten,
ergab sich der erstaunliche Befund (13), ein bis zwei
Drittel der Befragten bestritten negative Spätfolgen; es
gibt sogar Studien, in denen die Nachwirkungen für das
weitere Leben positiv genannt werden. Man kann sich
vorstellen, daß diese Ergebnisse in der Pädophilenszene
weidlich ausgenutzt wurden. In der lebensgeschichtlichen Rückschau werden wie wir sicherlich auch spontan vermuten diejenigen Traumaerfahrungen am negativsten bewertet, wo es zu mehrfachen, gewaltätigen Übergriffen seitens älterer männlicher Täter kam. Massive Gefühle der Scham und Schuld entwickeln sich bei Jungen & Männern, sofern a) emotional nahestehende Täter, besonders Täterinnen (z.B. Mütter) beteiligt waren und b) wenn es bei den Traumatisierten zu einer eigenen physisch-sexuellen Erregung kam. Was kleinere Jungen als irritierend, schmerzhaft und ekelig erleben wird von ihnen in seinem sexuellen Charakter oft erst mit und nach der Pubertät erfaßt; es kommt dann oft zu einem Schub (14) an Scham- und Schuldgefühlen, die nicht selten bei Adoleszenten in die Suizidalität führen. Die Erfahrungen von absoluter Ohmacht, Hilflosigkeit und Schwäche in den Situationen des Missbrauchs und der Gewalt zerstören das oft schon oder noch fragile Selbst- und Weltvertrauen des Kindes, die Basis für jede Entwicklung. So empfinden sich auch noch viele Erwachsene als wertlos, unfähig und überflüssig. Das Selbstbild oder Selbstwertempfinden scheint umso stärker beeinträchtigt, je massiver die gewaltätigen und/oder sexuellen Übergriffe waren und je emotional näher sich Opfer und TäterIn standen. Viele Opfer schützen aus diesen Gefühlen heraus noch ihre TäterInnen und schweigen. Natürlich spielt auch Angst eine Rolle, Angst vor noch mehr Gewalt, aber auch Furcht davor, daß ihnen nicht geglaubt wird - eine oft berechtigte Furcht. Bei vielen Opfern gleichgeschlechtlicher Übergriffe entwickelt sich zudem die Angst, homosexuell zu sein oder als schwul angesehen zu werden. Insgesamt kommt es zu einer Verunsicherung in der Geschlechtsidentität, die häufig eine Überidentifizierung mit dem männlichen Rollenstereotyp zur Folge hat. Sie stellen sich dann als besonder "cool" dar und entwickeln aggressive bis deliquente Verhaltenweisen. Interessanterweise zeigen die Untersuchungen aber auch das gegenteilige Bild: die Entwicklung besonders femininer Charakterzüge! Das sind dann solche Patienten, die wir immer in Frauenrunden finden - besonders verständnisvoll, aber mit gelegentlichen aggressiven, machohaften "Ausrutschern". Versuchen wir diese scheinbar widersprüchlichen Befunde zu interpretieren (15), so liegt die Annahme eines kognitiv-emotionalen "Umbewertungs- oder Abwehrprozesses" nahe, der anfangs zur Überidentifkation mit der männlichen Rolle führt. Die oben genannte Trias von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Schwäche benennt ja sinnfällig die Antithese das Gegenteil von dem, was die männliche Rollenerwartung fordert: Macht Kontrolle und Stärke. Gelingt diese Umbewertung bzw. Abwehr nicht, so greift ein ebenso starres feminines Rollenstereotyp, die Identifikation mit der Schwäche und Hilflosigkeit. Dafür hassen sich diese Männer mitunter, wobei Identifikation und möglicher Selbsthaß von der Mentalität und den Rollenvorstellungen des sozialen Umfeldes abhängig scheint; also von Gleichaltrigen, Arbeitskollegen und Famile. Soziale
Beziehungen sind oft massiv gestört, geprägt von den
Erfahrungen und Empfindungen des Verrats, Misstrauens,
Unsicherheit und Entfremdung. Überhäufig leben solche Männer
getrennt, geschieden, mit der Angst vor längeren,
emotional intensiven Beziehungen. Beziehungsabbrüche
werden häufiger selbst inszeniert, um so die Kontrolle
über die Situation zu behalten, nicht wieder in eine
Opferrolle beim möglichen Verlassen-werden
zu geraten. |
Opfer
bleiben Opfer, werden aber auch selbst Täter. Mindestens
ein Drittel späterer Sexualstraftäter waren selbst in
der Kindheit sexueller Gewalt ausgesetzt; ähnliches gilt
sicherlich für Kindesmißhandler. Die traditionelle Psychoanalyse nennt hier die Abwehrform der "Identifizierung mit dem Aggressor": indem ich wie der Täter fühle und handle, befreie ich mich vom Opferdasein, den Erfahrungen der Ohnmacht und Schwäche. Die Bindung von Führer und Gefolgschaft in totalitären Institutionen folgt z.T. diesem Muster. In der Selbstlegitimierung folgen dann die bekannten Sprüche: "Mir haben die Schläge nicht geschadet, dann können sie für mein Kind auch gut sein". In Abwehr der Erfahrung eigener Schwäche, soll der Sohn oder der Zögling "stark" werden und "was uns nicht umbringt, macht uns stark". Die Theorie der "erlernten Hilflosigkeit" (Seligman) hebt ganz auf den Kontrollverlust in der eigenen Missbrauchserfahrung ab und sieht in der Re-inszenierung als Täter die Wiederherstellung von Herrschaft & Kontrolle über die Situation. Ziehen wir die jüngere Psychoanalyse zu Rate und erinnern wir uns an die Ausführungen zum negativen Selbstwertempfinden bzw. zur männlichen Rollenerwartung, so ergibt sich der folgende Interpretationsansatz (18): Das geschlagene und/oder missbrauchte Kind bzw. der spätere Erwachsene spaltet unbewußt diesen Teil seiner Persönlichkeit, seines Selbst ab, um von der Demütigung und dem Schmerz nicht überflutet zu werden. Es haßt diesen Selbstanteil, denn er ist nicht einfach "weg" i.S. von verdrängt. Vielmehr haben wir es mit einem Leben in nebeneinanderliegenden Welten zu tun, die nicht ineinander integriert werden können. Wird dieses Nebeneinander zu unerträglich und/oder im äußeren Umfeld kommt es zu zusätzlichen Belastungen, kann der verhaßte Selbstanteil nach "außen" in ein Opfer "projiziert" und dieses physisch misshandelt und/oder sexuell missbraucht werden. Diese 'Belastungen' können verschiedenster Art sein: Verlust von Anerkennung, Konflikte in der Partnerschaft oder die Geburt eines Kindes. Wenn solche Männer dann angeben, sie seien provoziert, ja verführt worden; die Jungen oder Mädchen hätten es geradezu "auf sie abgesehen", so ist das sicherlich eine Schutzbehauptung, gleichzeitig aber auch Ausdruck einer psychischen Pathologie, in der innere und äußere Realität ineinander verschwimmen. Dabei sei angemerkt, die Formen der Spaltung und Projektion sind nicht notwendigerweise Mechanismen einer im forensischen Sinne schuldunfähigen Person: psychologisches "Verstehen" meint noch lange nicht "Entschuldigen". Bleiben wir noch einen Augenblick bei aggressivem Verhaltenweisen als möglicher Folge von Kindheitstraumata. Eine eindeutige kausale Zuschreibung ist hier unmöglich; immer müssen die gesamten Lebensumstände betrachtet werden, wobei der Familiensituation eine Hauptbedeutung zukommt. So bestimmt die soziale Lage schon mitunter, ob ein auffällig gewordener Jugendlicher eher an einen verständnisvollen Therapeuten oder ins Justizsystem gerät. Und noch ein Punkt scheint mir bedeutsam, insbesondere wenn wir von Straßenkindern, Trebegängern und Obdachlosen sprechen. Aggressives und deliquentes Verhalten, in gewisser Hinsicht auch Alkohol, Drogen und Prostitution gehören zur "Überlebensstrategie" in diesem Milieu. Mißtrauen, Unsicherheit, Kälte und Entfremdung in den Beziehungen - Empfindungen, die die meisten Traumatisierten teilen - sind es nicht selbstschützende Muster, die der Realität "auf der Straße" angemessen sind? Oder müssen wir eher sagen, dieses Leben ist ein "unaufhörliches Trauma". In Lehrerzimmern, Amtsstuben und psycho-sozialen Einrichtungen herrschen andere Kommunikationsstrategien, mitunter aber auch recht aggressiv, nur sublimer: Ironie, Sarkasmus, zynische Entwertung, Mobbing etc. Lassen Sie mich an dieser Stelle ein paar Bemerkungen zu einem Begriff einfügen, der seit ein paar Jahren in vieler Munde ist und den auch wir im Vorangegangenen kommentarlos verwendet haben den Begriff des Traumas.
Bezeichnet der Begriff ein gravierendes, äußeres Ereignis, ein Erlebnis bzw. eine Erfahrung, eine Form der Verarbeitung oder bezeichnet er langfristige psychische Folgeschäden? Begriffen wir Trauma vornehmlich als 'äußeres Ereignis', so betätigten wir uns dedektivisch in der "Aufklärung eines Sachverhaltes", in der "Identifizierung einer Ursache oder eines Täters", dann wollen wir haargenau wissen, wie "es" geschah, statt unsere Empathie darauf zu richten, wie "es" hier & jetzt immer noch geschieht: in überfutenden Erinnerungen, Träumen oder sich Beziehungskonflikten wiederholt und re-inszeniert; wobei dieses "es" sexueller Missbrauch, physische Misshandlung oder ein schwerer Unfall bedeuten kann. Ich spreche hier in psychotherapeutischer Perspektive; für eine Mitarbeiterin des Jugendamtes oder einen Anwalt mag dies anders aussehen. Sigmund
Freud beschrieb das Trauma als "ein Erlebnis,
welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so
starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder
Aufarbeitung desselben in normal-gewohnter Weise mißglückt"
(19). a)
Die traumatische Situation; ad a die traumatische Situation: Geschehnisse / Situationen seien es Gewalteinwirkungen, Katastrophen oder Unfälle sind nicht per se (für sich) traumatisierend, sie enthalten aber ein "traumatisierendes Potential", dh. immer gibt es eine Wechselwirkung von Ereignis und Erlebnis, von realer Situation und psychischer Disposition des Individuums. Dies ist von besonderer Bedeutung bei Mehrfachtraumatisierungen, wenn also metaphorisch gesprochen der Alptraum nicht enden will. ad b
die traumatische
Reaktion: Traumatische Situation und traumatische
Reaktion sind nicht ganz trennscharf. Bei letzterer liegt
der Schwerpunkt aber mehr auf der innerpsychischen Ebene
von "Abwehr- und Bewältigungsversuchen".
Typischeweise finden hier einen Wechsel zwischen
Verleugnung und Reizüberflutung, wobei die Verleugnung
oft mit Alkohol und/oder Drogen - i.w.S. - unterstützt
wird. Häufig äußern sich die Zustände der Reizüberflutung
in Schlaflosigkeit oder in fürchterlichen Alpträumen. ad c der traumatische Prozeß: Die mittel- und langfristigen Folgen von Traumata für die Erlebnis- bzw. Beziehungsfähigkeit und die Persönlichkeitentwicklung bestimmen das, was Fischer & Riedesser den "traumatischen Prozeß" nennen. Ein traumatisiertes Kind wird z.B. auf die Entwicklungsaufgaben in der Pubertät oder Adoleszens kaum noch angemessen "antworten" können, da sein gesamtes Selbst- und Weltverhältnis massiv erschüttert wurde und den weiteren Lebensweg (mit)bestimmt. Auch hier bestätigt sich der Satz: "Zeit allein heilt keine Wunden".
Bei vielen, aber wiederum nicht allen misshandelten und missbrauchten Männern finden wir Symptome, die einer chronifizierten Posttraumatischen Belastungsreaktion (PTBR) entsprechen (21):
Ich denke, es läßt sich leicht einsehen, welche Rolle in diesem Wechselspiel von Reizüberflutung und Verleugnung Alkohol, Drogen und Medikamente einnehmen. Sie sind ein verzweifelter Selbstheilungsversuch, der zeitweilig Entspannung verschafft, aber letzlich in der Sucht einen weiteren Kontrollverlust bedeutet. Wer in die Trauma-Literatur einmal hineingeschaut hat, stieß sicherlich auf ein Phänomen, das ich noch besonders erwähnen möchte: Wie oft hören wir (23):
Das Selbst, überflutet von Affekten und Schmerz, rettet sich vor der endgültigen Vernichtung, indem es - wie wir es nennen - dissoziiert. Körperempfinden, Gefühle und Gedanken sind normalerweise miteinander verbunden - assoziiert. Wenn Körper- und Schmerzempfindungen "abgeschaltet" und Gefühle abgespalten werden, so sind sie vom Ich - analog gesprochen - dissoziiert. Wir kennen dieses Phänomen ansatzweise selbst aus Unfallerfahrungen oder bei Schreckensnachrichten. Wir fühlen kaum etwas, sprechen und handeln weiter, aber wie in Trance - der Zusammenbruch mit Zittern, Heulkrämpfen und den Bildern, was passiert oder hätte passieren können - folgt oft erst später, wenn wir die Situation schon verlassen habe. Das Selbst ist in der Dissoziation nicht mehr unabhängiger Mittelpunkt von Antrieb & Wahrnehmung, nicht mehr leib-geistige Einheit in Raum und Zeit (24). Personalität und Realität sind sprichwörtlich "ver-rückt". Nur am Rande bemerkt: Solche Dissoziationserlebnisse kennen wir alle, Traumatiserte und sogenannte Gesunde, jedoch nicht aus dem wachen Leben, sondern aus unseren Träumen. Auch dort löst - zumindest lockert - sich oft die Einheit des Selbst, das Raum-Zeit-Kontinuum auf. "Eigentlich sind wir nachts" so Ulrich Sachsse (25) "zwei- bis dreimal psychotisch: wir hören Stimmen, ... sehen Bilder, sind delirant. (...) Morgens werden wir wach, unser Frontalhirn hat sich alle Mühe gegeben, daraus einen sinnvollen Traum zu machen man nennt das sekundäre Traumarbeit". So sind diese De-personalisation und De-realisation keine einfach "pathologischen" Phänomene; sie schützen das traumatisierte Individuum vor vollständiger Desintegration / Vernichtung. Dissoziation gibt es in den ürsprunglichen Misshandlungs- und/oder Missbrauchssituationen, aber auch in den späteren Phasen der überflutenden Erinnerungen. Die
Formulierung "sich in die Dissoziation retten"
kennzeichnet wiederum den Kompromißcharakter
psychopathologischer Symptome. Sie bleibt aber nur die
'zweitbeste Lösung und ist wenngleich
abgeschwächt ebenfalls ein unfreier Zustand der
Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins, ein Erleben im
Zustand des ohnmächtig leidenen Objekts. Die klinische Erfahrung lehrt, Frauen neigen eher zur Dissoziation, während Männer mit größerer Wahrscheinlichkeit dissozial, dh. verhaltensauffällig und deliquent werden. Doch hüten wir uns vor einer Pauschalisierung. Ich erinnere an meine Eingangsbemerkungen zum Thema.
Versuchen wir nun die verschiedenen Folgesymptome von Misshandlung & Missbrauch sowie die vereinzelten Erklärungsskizzen in einem Interpretationsmodell zu integrieren, so stützen wir uns an dieser Stelle auf die Theorien von Janoff-Bulmans und Horowitz (26). Dazu muß ich etwas ausholen: Wir begegnen neuen Erfahrungen, Menschen, Dingen und Situationen immer schon mit einer Skizze, besser mit einem Set aus Skizzen die man auch kognitive Schemata nennen kann. Sie stammen aus unserer Vor-erfahrung und gliedern uns die Welt, wobei sie mit typischen Gefühlen und Handlungsmustern verbunden sind. Nur so gibt es einen Sinn in unserer Erfahrung; ohne Sinn kein Verstehen der Situation, ohne Verstehen kein (potentielle) erfolgreiches Handeln. Überrascht uns z.B. ein Partner/eine Partnerin mit einem unvertrauten Verhalten - sei es besonders distanzierend oder distanzlos brutal - so suchen wir die Situation zu 'normalisieren', dh. wir suchen bei ihm/ihr oder bei uns Anhaltspunkte, die uns das Verhalten erklären: "Was hat die bzw. der denn?" oder "Was hab' ich denn jetzt falsch gemacht?" Wir suchen nach alternativen Sinn-gestalten. Plötzlich riechen wir die Alkoholfahne. Bewußt-unbewußt versammelt dieser Sinneseindruck Szenen aus der Vergangenheit und Erklärungsmuster, die wiederum unsere Erwartung daran bestimmen, wie die gegenwärtige Situation weitergehen kann und welche Einwirkungmöglichkeiten wir darauf haben. Es kommt zu einer Umdeutung Sie erinnern den Begriff vom Anfang meiner Ausführungen! - Wir können nun zwar ärgerlich sein oder Angst empfinden, den Partner zum Teufel wünschen etc., gleichwohl haben wir die Situation und das Verhalten des Anderen in eine Ordnung, in einen Sinnzusammehang gestellt. 'Normalisierung' ist nicht mit 'Harmonisierung' zu verwechseln, obgleich letztere auch eine Form der Ordnungsherstellung bedeutet, nur eine, die im großen Maße mit Selbsttäuschung einhergeht. Die Bewegung der irritierenden Erfahrung des Neuen, Überraschenden, gefolgt von der Arbeit der 'Normalisierung' mittels Deutung und Umdeutung bestimmt ganz selbstverständlich und unbewußt unser tägliches Leben. Vor diesem, recht grob skizzierten Hintergrund - darauf geht der Sinn meiner Vorbemerkung - bedeutet das Trauma eine Ausnahmesituation:
Im Versuch, sich selbst und die Welt wieder in eine Ordnung zu bringen, die traumatische und vergangene Erfahrungen in einen Sinnzusammenhang zu stellen, kommt es zur Umbewertung und alternativen Sinngebung des Geschehens & Erlebens. Der relativ hohe Prozentsatz von Männern, die negative Folgen ihrer Missbrauchserfahrung negieren, sie gar in positiven Licht erscheinen lassen, könnte mittels dieser Hypothese verstanden werden: "Ich bin doch kein Weich-Ei"; "ein Mann bleibt doch ein Mann". Auf die Kehrseite dieser männlichen Selbstbild-Rettung haben wir oben bereits hingewiesen. Doch bei größerer Gewalt und emotionalen Nähe funktioniert diese Umdeutung nicht: "das konnte doch nicht der gleiche Vater, der gleiche Lehrer, die gleiche Mutter sein, die dies tat und doch die wichtigste, zumindest potentiell liebenswerteste Person in meinem Leben war." Also: "ich bin schlecht, ich bin schuldig; wenn ich nicht da wäre, wäre nichts geschehen". Es mag sich zynisch anhören, aber mit negativen Sinngebung der eigenen Person ist die Welt wieder in Ordnung; mehr noch: damit ist Kontrolle wiedergewonnen: ich bin zwar schlecht, aber dadurch nicht nur leidend-erleidendes Opfer, sondern durch mein Schlecht-und Schuldig-Sein bin ich Mit-täter, dh. aktives Subjekt. Horowitz geht mehr auf das Wechselspiel von Reizüberflutung und Verleugnung bzw. Selbstbetäubung ein: Neue Erfahrungen benötigen Zeit, kognitiv verarbeitet und emotional verkraftet zu werden. Bis wir das Neue der Situation in unsere vorgegebene Selbst- und Weltinterpretation integriert bzw. unsere Interpretationsmuster ergänzt haben, bleibt das Geschehen in unserem aktiven Gedächtnis. - Das kennen wir selber: unerledigte Aufgaben behalten wir meist besser als abgeschlossene (27). Auf Extrem- und Traumaerfahrungen, diesen "Riß" im gewohnten Sinngefüge, reagieren die Betroffenen gleichermaßen: das Trauma bleibt präsent, will verstanden werden. Horowitz spricht hier von einer Vollendungstendenz (28) der Reizverarbeitung. In dieser Phase finden wir die überflutenden (intrusiven) Erinnerungen, Gedanken und Gefühle. Sie lassen uns in ihrer Intensität aber keine Zeit, sind nicht aushaltbar, dann kann dieser Prozeß strikt unterbrochen werden: die Erinnerungen, die Gedanken und Gefühle sind wie "abgeschaltet". Fühllosigkeit, Entfremdung, Taubheit sind der Preis. Wir finden hier den Grund für die wechselhafte Symptomatik wie auch den Mechanismus der Dissoziation. Unter beruhigenden Umständen lockert sich diese Selbst-abschaltung und die erste Phase der Überflutung tritt wieder auf, denn immer noch will der "Riß" in der Selbst- und Weltinterpretation verstanden/ verarbeitet und nicht "übertüncht" werden. In den
psychotherapeutischen Gesprächen begegnet mir ein und
derselbe Patient mal scheinbar konfus, überdreht und
gespannt, dann wieder leer und depressiv, das kann sogar
innerhalb einer Gesprächssequenz "umkippen".
Gleichwohl kann er lernen, diesen Wechsel besser zu
kontrollieren: nur soviel Erinnerung und Vermeidung
zuzulassen, wie für ein allmähliches Verstehen und
Verkraften nötig und möglich sind: Schmerz, Wut, Enttäuschung,
Trauer folgen in einem langen, mühseligen Prozeß und
lassen auf jeden Fall eine tiefe Narbe zurück.
Ich habe diese Theorien auch deshalb vorgestellt, weil sie mit einem Modell zusammenklingen, daß sich nicht vornehmlich die Frage stellt, wie entsteht Krankheit, sondern was gewährleistet Gesundheit. Aaron Antonovsky (30) spricht analog der Krankheitsentstehung = Pathogenese von "Salutogenese" = Gesundheitsentstehung. Für unseren Zusammenhang heben wir einen Aspekt besonders hervor: das Kohärenzgefühl: "Das
(...) meint eine Grundstimmung oder Grundsicherheit,
innerlich zusammengehalten zu werden, nicht zu zerbrechen
und gleichzeitig auch in äußeren Anbindungen Unterstützung
und Halt zu finden. Der Kohärenz-sinn beschreibt eine
mit diesem Gefühl einhergehende und an gedankliche
Aktivität geknüpfte Weltsicht:
|
Verstehbarkeit ... + ... Handhabbarkeit ... + ... Sinnhaftigkeit |
||
der Welt, |
Vertrauen, aus
eigener Kraft |
|
Kohärenzgefühl / -sinn |
||
» innerer
Zusammenhang « und |
||
Gesundheit |
Hieraus ergeben sich für TherapeutInnen, BeraterInnen und Angehörige wichtige Konsequenzen. Der Schritt zum Sprechen ist wichtig; Heraustreten aus dem Tabubereich. Der Scham wohnt eine Verheimlichungstendenz inne, die ineins Realität verschleiert (32). Es geht auch um die Übernahme von Verantwortung. Unter traumatisierten Männern zeigt sich - wie bei Frauen - der Mechanismus, sich für alles & jedes schuldig zu fühlen. Gleichwohl - und das mag vielleicht hart klingen - gibt es bei anderen Patienten die Tendenz, sich stets - in allen Beziehungskonflikten & Lebenslagen als "Opfer" zu fühlen und ich vermute, Männer sind für diese Realitätsverkennung anfälliger als Frauen. Dh. es geht nicht nur um einen emotionen Prozeß mit Gefühlen der Wut, Enttäuschung und Trauer, einen Abschied von der Illusion liebender Eltern, einen Abschied von der Sehnsucht, wie Andere eine glückliche Kindheit gehabt zu haben; sondern es geht auch um Unterscheidungsprozesse: damals war ich schuldlos der Gewalt ausgeliefert, aber heute bin ich nicht mehr das Kind von damals, ich muß mein heutiges Handeln verantworten. Wieweit ein Mensch mit dieser Lebensgeschichte das kann, hängt von seinen "Ressourcen" - wie es neuerdings so schön heißt - ab. Und damit komme ich zu einer Einschränkung des soeben Gesagten: Sprechen hilft, aber nicht allein! Es
bedarf innerer & äußerer Orte der Sicherheit, zu
denen man(n) sich retten kann, wenn sie Erinnerung zu
massiv oder die Selbstbetäubung zu stark werden. Früher
nannte man solche Stätten Asyl. Ich
komme zum Ende meines Vortrages mit ein paar warnenden
Fragen aus eigener langjähriger Erfahrung. Steht hinter
dem Interesse an Missbrauch & Gewalt nur das
notwendige Aufbrechen von gesellschaftlicher Tabuisierung
und die Suche nach professionellem Wissen? Was entsetzt
und fasziniert uns zugleich an den Erzählungen
Betroffener? Warum sehen wir den "ungeliebten
Suchtpatienten"(34) plötzlich mit
anderen Augen, wenn wir auf etwaige Traumata stoßen?
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld. |
Diagnostische
Kriterien
der Posttraumatischen Belastungsstörung
nach
DSM IV (35)
Einladung durch Dr. Peter Szynka, 1 zit.in: Lenz, H-J, Männer als Opfer, online: http://www.oeko-net.de/mabuse/zeitschrift/mab125d.htm 2 ebd. 3 ebd 4 Rauchfleisch, U. (1996): Allgegenwart von Gewalt, Gött.-Zürich, S.65 und 79 5 ebd. S.63 6 ebd. s.79 7 Julius, H./U. Boehme (19972): Sexuelle Gewalt gegen Jungen. Eine kritische Analyse des Forschungsstandes, Göttingen, S.72 8 Wir beziehen uns in der folgenden Darstellung hauptsächlich auf die vorzügliche Übersicht von H.Julius und U.Boehme (ebd.), die nicht nur viele Daten aus deutschen und angloamerikanischen Studien vortragen, sondern auch deren methodische Schwierigkeiten thematisieren. 9 vgl. ebd., S.238f 10 Hirsch. M. (1994): Aggression und Autoaggression in der Inzest-Dynamik, in: Psychoanalytische Blätter, Bd.1, Gött. & Zürich, S.13 11 Unter den
jugendlichen Ausreißern beträgt der Anteil sexuell
traumatisierter insges. 33 56%, Jungen betrifft es
mit ca. einem Drittel. Vgl. die Diplomarbeit von Andreas
Gleis (1997): Strassenkarrieren junger Menschen
Unter berücksichtigung der psychosozialen
Bedingungsfaktoren, Münster, online:(s. Diplomarbeit
oder strasska.zip) 12 vgl. Julius/Boehme, a.a.O., Kap. 4.2 und 4.3 13 vgl. ebd., S.191f 14 Eingehender müßte dies mit dem psychoanalyrischen Konzept der "Nachträglichkeit" in Verbindung gebracht werden. 15 ebd., S.198f 16 vgl. Süsske,
R. (2000): Das Leiden an der vergangenen Zukunft,
in: Kupke, C.(Hg.): 17 vgl. Julius/Boehme, a.a.O., S.68-70, 200ff sowie Fischer, G. / P. Riedesser (1998): Lehrbuch der Psychotraumatologie, Mnch. Basel, S.285ff 18 vgl. Fischer / Riedesser, a.a.O., ebd. 19 Freud, S. (1915): GW 9 20 Fischer /
Riedesser, a.a.O. Wir folgen hier der guten
Zusammenfassung von R. Bawinski Fäh (2000) Psychisches
Trauma - ein unmögliches Konzept, online: 21 im Anhang habe ich eine genauere Übersicht der Diagnose-Kriterien für die PTBR beigefügt. 22 vgl. Süsske, R. (2000a): Vermischte Bemerkungen zum Thema Traum und Trauma. Vortrag auf der Tagung "Vom Träumen und Hoffen", CKQ Quakenbrück (6.12.2000) - online: http://www.suesske.de/suesske_trauma.htm 23 vergl. Sachsse
(2000): Schwere Traumatisierungen wie bewältigen?
Das dort Ausgeführte deckt sich mit eigenen klinischen
Erfahrungen. online: 24 wie in der klassischen Bestimmung z.B. bei Heinz Kohut - vgl. Süsske, R. (1998): Was meint Heinz Kohut, wenn er vom Selbst spricht?, online: http://www.suesske.de/kohut_selbst.htm 25 Sachsse (a.a.O.) 26 vgl. Julius / Boehme, a.a.O., S. 244-250 27 sog. Zeigarnik-Effekt 28 Horowitz bedient sich hier des psychoanalytischen Konzepts des "Wiederholungszwangs" und gestaltpsychologischer Konzepte: "Tendenz zur guten Gestalt" bzw. o.g. Zeigarnik-Effekt aus der Schule Lewins. 29 vgl. Sachsse.,a.a.O 30 vgl. Schiffer, E. (2001): Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese Schatzsuche statt Fehlerfahndung, Weinheim & Basel 31 ebd., S.29 32 Bruder, K.-J.(1996):
Die Scham des Missbrauchers - (und die)
Probleme der Therapie, 33 Bei Interesse
fragen Sie nach - Einstiegsinformationen online: 34 Ebi, A. (2000): Der ungeliebte Suchtpatient, Psyche 6/2000, S.521-543 35 American Psychiatric Association (1996) Diagnostisches und statistisches Manual psychichischer Störungen, dt.Übersetzung; Gött-Bern-Toronto. in: Fischer / Riedesser, a.a.O., 42f)
siehe
dazu:
Siehe auch:
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