Achim Kraul Darstellung & Assoziationen: Dipl.-Psych. Rudolf Süsske Einleitung: Der gegenwärtige Streit um die 'richtige' Psychotherapie ist durch eine besondere affektive Aufladung gekennzeichnet. Diese gründet - so die These von Kraul - u.a. in differenten, zumeist impliziten Werthaltungen der einzelnen Therapieschulen. Als Interpretationsfolie nutzt er die ideengeschichlichen Untersuchungen des amerikanischen Sozialphilosophen Charles Taylor zur "Entstehung der neuzeitlichen Identität" (dt.Die Quellen des Selbst, Fft.1997). "Konfliktfelder moderner Identität" (32) In einer formalen Anzeige geht es Taylot um den Zusammenhang zwischen den Werthaltungen in der Neuzeit und verschiedenen Konzeptionen des Selbst. Die 'Quellen' einzelner Werthaltungen können dabei aus historisch unterschiedlichen 'Schichten' stammen. Die Konzeption des 'Selbst' bestimmt Taylor nicht ontologisch, dh. in der Bestimmung einer naturalen und/oder mentalen Substanz (res), sondern er greift das alltagspragmatische "Gefühl der Innerlichkeit im Sinne von Selbstbild oder Selbstverständnis" (ebd.) auf. "Das Selbst" Im Folgenden paraphrasiere ich die Darstellung Krauls,
verzichte aber auf die Überprüfung seiner Thesen am
Taylor'schen Original (900 S. !!!). a) Der Mensch - als Selbst - ist in keiner Weise von
anderen Objekten unterschieden, unterliegt den Gesetzen
der Kausalität und Mechanik und kann wie andere
Naturgegenstände beobachtet, gemessen und objektiv
konzeptualisiert werden. In der Moderne entwickeln sich aus dieser Dichotomie drei Konzeptionen des Selbst: 1. Der Monismus eines materialistisch-objektivistischen Selbstentwurfes hielt sich - bei allen Differenzierungen - in einer Linie von Hobbes bis z.B. Dennett und Churchland durch. Die beiden anderen Linien verstehen sich als Gegenbewegungen zu diesem "homogenisierenden Materialismus und Objektivismus". 2. Die Sichtweise der Autonomie "konzeptualisiert
den Menschen als potentiell sich selbst bestimmendes
freies Subjekt, fundamental unabhängig von allen Formen
natürlicher Kausalität" (ebd.). "Modellkritik" Mit diesen drei Interpretationsmustern befragt Kraul nun die Psychoanalyse, die Verhaltenstherapie, die Humanistische Psychotherapie und die Systemische Therapie auf ihre untergründigen werthaltigen Selbstkonzeptionen. Dabei stellt er die Schulen sehr typologisch vor. 1. Psychoanalyse: Die Psychoanalyse zeichnet sich durch eine besondere Nähe zur Romantik aus. Diese jedoch in einer umgestalteten Form. 'Die Güte der Natur' und die Annahme einer spirituellen Wirklichkeit 'hinter den Dingen' (ihre Nachtseite z.B. noch beim Psychophysiologen Fechner) wich einer realistischen und skeptischeren Sichtweise. "Damit einher geht eine Bejahung der ungezügelten Natur und elementaren Begierde, die vom Ballast eines spirituellen Aufstiegs befreit ist" (34). Für die Psychoanalyse bedeutsam ist die Konzeption des Willlens bei Schopenhauer. Der "ist keine spirituelle Quelle des Guten, sondern wildes, blindes und unkontrolliertes Streben um seiner selbst Willen". Die Natur stellt ein großes, a-moralisches Kraftreservoir dar, mit dem wir inniglich verknüpft sind, das wir zur eigenen Expressivität 'anzapfen' können, welches aber - bezogen auf die moralisch- / wertbezogenen Verkehrsformen der Menschen untereinander - keinen sinn-vollen Anhalt bietet. "In dieser Perspektive erscheint die
Psychoanalyse als Versuch, angesichts der wilden,
amoralischen und unbewußten inneren Tiefen die Würde
des Subjekts im Sinne von Beherrschung und
Selbstkontrolle wiederzugewinnen" (ebd.) Die Werthaltungen der Psychoanalyse (Zitat Kraul: 34f):
2.Die Verhaltenstherapie: Mit dem - so sei angemerkt (R.S.) - unumkehrbaren Verlust der theo-kosmologischen Ordnung trat eine 'Entzauberung der Welt' (M.Weber) ein. R.S.:Es gibt keine platonischen Ideen, keine 'Weltseele', keine verschiedenen Wirklichkeitssphären mehr, keinen, die Welt durchwaltenden Logos (Vernunft), an dem der Mensch teil hat (methexis). Angesichts neuer empirische Erfahrung, die sich mit der mittelalterlichen, an autoritative Texte (z.B. Aristoteles) gebundenen Erkenntnis nicht mehr vereinbaren ließ und angesichts religiös motivierter (Bürger)-Kriege gerieten die vorherigen Ordnungen ins Wanken. Hier setzt die cartesianische Zweifelsbetrachtung ein,
der alle Welterfahrung ungewiß wird und an deren Ende
das 'ego cogito', das 'Ich denke' steht. Vor diesem muß
sich alle Erkenntnis methodisch gesichert ausweisen. Die
Natur wird als res extensa, ausgedehnte Substanz
konzeptualisiert. Aus diesen sehr schematischen Andeutungen wird aber
sicherlich die Spannung deutlich: Als Erkenntnis- und
selbständiges bürgerliches Vertragssubjekt gilt der
Mensch autonom und frei; als natürliches Objekt ist er gänzlich
in einem materialistisch-deterministischen, methodisch
gesicherten Natur-Entwurf verortet. Die Werte dieses Naturalismus können nach Kraul bestimmt werden "als die Möglichkeit von neutraler Kontrolle und Effektivität. Die innere Haltung besteht in der Fähigkeit, die Dinge unverklärt zu sehen (...) und dabei eine Freiheit zu erringen, die Welt zu beherrschen und für die eigenen Zwecke nutzbar zu machen" (35). R.S.: Instrumentelle Objekt- und zweckrationale Selbstmanipulation folgen der gleichen Logik. Darin liegt natürlich ein Moment der 'List' (ich entscheide, mich wie ein Objekt zu betrachten und zu 'bearbeiten') welches sich aus dem Naturalismus selbst heraus kaum erklären läßt. Die Wertvorstellungen in der Verhaltenstherapie (35):
3. Die Humanistische Psychotherapie Diese Richtung mit ihren vielfältigen Spielarten gehört
- nach der Taylor'schen Untersuchung zum Bereich der
expressiven Konzepte mit besonderer Nähe zur Romantik.
Die Natur wird als 'gute Quelle' vermeint, zu der wir qua
'innerer Stimme', innerer Regungen einen Zugang haben.
Nur in der schöpferischen Artikulation des Inneren
gelangt man zu vollständigen Erkenntnis dieser Natur. Mechanischen Assoziationsmodellen werden organische
Wachstumsmodelle entgegengestellt. Konflikte gelten nicht
als notwendig, sondern sind lediglich
Desintegrationsprodukte. Leitend ist die Vorstellung von
Versöhnung und Harmonie, die Aufhebung von Trennungen /
Spaltungen, z.B. zwischen Verstand und Gefühl, aber auch
zwischen Ich und Anderen (Gemeinschaft statt Gesellschaft)
bis hin zu der von Innen und Außen (insbesondere bei
esoterisch beeinflußten Konzepten). Hinzu tritt ein
Ideal unabschließbaren (inneren) Wachstums. Die Werthaltungen der Humanistischen Psychotherapie (35f)
4. Die Systemische Therapie (36) Unter diesem Titel firmiert die jüngste, der von Kraul typologisch betrachteten Therapieschulen. Sie soll auch für einen paradigmatischen Wechsel von der Moderne zur sog. Postmoderne stehen, die am ehesten sich noch von expressiven konzepten - i.S. Taylors - herschreiben läßt. Schon bei der sicht auf die Psychoanalyse sahen wir, daß sich eine romantische Inanspruchnahme der 'Natur' als Quelle der Güte / des Sinns nicht aufrechterhalten ließ. Bei einer durch und durch rationalisierten Welt, deren Gesetze nur Nützlichkeiterwägungen gehorcht - was bleibt? Die Innerlichkeit, eine Sphäre autonomer und/oder expressiver Subjektivität, die nun aber - postmodern - selbst in Frage steht. Die Vorstellung eines einheitlichen Selbst, die Konzeption von Identität beschreiben keine Realität, sondern Imaginationen (z.B. bei Lacan) bzw. sind Zurichtungen einer fragmentierten, zügellosen Subjektivität. Kraul schreibt: "Nach Ablehnung der mit den
autonomen und expressivistischen Modellen einhergehenden
Werte bleibt hier das sozusagen 'tiefste Gut' der Neuzeit
allein übrig: Die Betonung der (...) reinen Freiheit und
Macht des Selbst" (ebd.). "Mehr oder weniger radikaler Konstruktivismus und das Projekt der Dekonstruktion sind ein wichtiges Merkmal der systemischen Therapie. Aufgrund des beschriebenen Mangels positiver Werte kommt es zu sehr unterschiedlichen 'Auffüllungen': einerseits kann eine Nähe zum Wert der Selbstkontrolle und autonomen Selbststeuerung, andererseits auch zu expressiven Werten gesucht werden" (36). Die Werthaltungen in der systemischen Therapie (ebd.)
Brainstorming zum Thema: Die Re-konstruktionen der Freud'schen Theorie und
Praxis entwickelten sich in den letzten Jahrzehnten immer
gemäß der philosophischen Theorie, die gerade 'in Mode'
war bzw. ist. Immer gab es einen sinnvollen Anhalt im
voluminösen Textgebirge des 'Meisters': Traumdeutung -
Freud ein Hermeneutiker? Metapsychologie -
Strukturalismus oder Neuroscience? Ist das Unbewußte wie
eine Sprache strukturiert? (Laplanche/Pontalis) etc. Die Bewegung vom wirklichkeitskonstituierenden Primat der Vernunft (Kant) zu dem des Willens (Schopenhauer) hat sicherlich eine hohe Evidenz, gerade für die skeptischen Passagen Freuds z.B. das Ich sei nicht Herr im eigenen Hause, die kultur-schaffende Notwendigkeit von Verdrängung und Sublimation. Kraul geht aber in keiner Weise auf die impliziten Werthaltungen im psychoanalytisch-therapeutischen Prozeß ein. Ist es die Archäologie eines dynamischen, aber gänzlich intrapsychischen Vorganges oder ist es ein interpersonelles Geschehen ('one-' oder 'two-body-psychology'; Balint). Das therapeutische Werkzeug ist ja nicht eine bestimmte Konzeption vom Selbst (qua Wissen), sondern der Einsatz der eigenen Subjektivität z.B. in der Übertragung und Gegenübertragung, Widerstansanalyse etc. Hier liegen sicherlich auch wesentliche Differenzen zur kognitiven Verhaltenstherapie, wobei - mit bezug auf die konkrete Praxis - sich auch wieder hinter dem Rücken konzeptueller Grabenkämpfe Gemeinsamkeiten auftreten. Das fängt schon bei der nur noch graduellen Unterscheidung zwischen Psychoanalyse und psychoanalytischer Psychotherapie an, es gibt keine Therapie ohne supportive Elemente (z.B. Wallerstein). Und wo liegt - faktisch - der kategoriale Unterschied zwischen einer interventionsfreudigen Fokaltherapie und einer kognitiv-emotiven Umstrukturierung bei einem 'tragenden' Verhaltenstherapeuten. Was Kraul mit den Werten der Selbsterkundung und Selbstverwirklichung anspricht, kann auch mehrerlei bedeuten und sich in allen vorgestellten Therapieformen finden. Es kann die Erfahrung der eigenen Wirkmächtigkeit sein (eine zur Selbstkonstitution wesentliche Erfahrung, wie sie auch die jüngere Säuglingsforschung darlegt) oder die Einsicht in die Mechanismen des eigenen Verhaltens und Erlebens. Hier liegt vielleicht eine wichtige Differenzierung: um effektiv zu sein, benötige ich nur die Selbstverständigung, die zur Handlungs- und Erlebensänderung notwendig ist. Die Systemiker würden sagen, es sind WIE-Fragen. Wie kann ich mich beeinflussen, um meine Angst wegzubekommen? Wie waren die Mechanismen und Situationen beschaffen, die dieses Gefühl und Verhalten hervorriefen? Wie beeinflusse ich ein Familiensystem, daß das symptomatische Verhalten eines ihrer Mitglieder verschwindet? WARUM-Fragen seien obsolet, weil sie einem überholten einliniges Kausalitätsverständnis entstammen. Aber vielleicht geht es bei den Warum-Fragen gar nicht um Kausalität i.S. eines psychischen Determinismus, sondern um Fagen an den gesamten - bislang nichtbefragten, selbstverständlichen - Entwurf der eigenen Lebensgeschichte. Wäre der Begriff nicht schon so inflationär und vieldeutig gebraucht, könnte man von der Frage nach dem Sinn sprechen. In der Verhaltenstherapie verschwindet diese Frage hinter der Summierung von ... bzw. Focussierung auf Einzelprobleme. In der Systemischen Therapie - wie sie Kraul in ihrer postmodernen Variante vorstellt - wird Sinn oder Wert funktional begriffen. Dies gilt für die meisten Varianten der jüngeren Systemtheorie, seien sie an der poststrukturalistischen französischen Philosophie (Derrida, Lyotard, Deleuze) oder an neuronalen Hypertheorie der Autopoiesis (Maturana, Luhmann) orientiert Dh. 'eigentlich' ist der Entwurf eines kohärenten, sich in und durch seine Lebensgeschichte selbst verständigen Subjektes obsolet, eine Illusion, aber da wir solche Illusionen zum Leben benötigen, basteln wir ihn uns einfach selbst. Es stimmen die, die am besten das Überleben garantieren. Ein Gedanke, den Nietzsche schon vor hundert Jahren formuliert hat: "Der Gesichtspunkt des 'Werts' ist der Gesichtspunkt von ERHALTUNGS-, STEIGERUNGS-BEDINGUNGEN in Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer (...) innerhalb des Werdens" (Wille zur Macht, Aph.715, Kröner-Ausgabe). Hier gibt es auch eine untergründige Verbindung
zwischen systemischen und humanistischen Konzepten: beide
immunisieren sich mit einer Restsubjetivität, die fast
nur noch aus reiner Spontaneität besteht, gegen das
sinnlose, nihilistische Rasen ökonomiebestimmter und
naturvernutzender gesellschaftlicher Verhältnisse. Die
einen versuchen es mit einer Re-mythisierung dieser Vorgänge,
die anderen mit einem listigen 'anything goes'. Die Passungen zwischen Klient und Therapeut (36ff) In einem zweiten Teil fragt Kraul nach den Folgerungen aus seiner Typologie. Zum einen lassen sich damit Therapeut-Klient-Dissonanzen beschreiben. Zweckrational-instrumentell orientierte Managertypen werden z.B. mit 'dem Hören auf die innere Stimme' humanistischer Therapeuten ihre Schwierigkeiten haben. Weitere Konstellationen lassen sich denken und sollen hier nicht dargestellt werden. Es geht dem Autor aber nicht um eine ausschließlich 'nachfrage-orientierte' Passung zwischen Therapeut und Klient. Er fordert vielmehr eine flexible Einstellung, die sich in Kenntnis verschiedener therapeutischer Interventionsstrategien um einen Zugang zum und eine Bereicherung des Selbst-Konzeptes der Klienten bemüht. (R.S.:Hier bleiben die Ausführungen des Autors recht kurz und dunkel.) Bewertungsmuster im Therapieschulenvergleich (37f) Nach Kraul könnten die affektiv aufgeladenen
Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen
Therapieschulen in den beschriebenen unterschiedlichen
Selbstkonzepten und Werthaltungen gründen. Die Entwertungsmuster zwischen der Verhaltenstherapie
und humanistischen oder psychoanalytischen
Wertorientierungen bestehen vor allem in Verweisen auf
Irrationalität und vorwissenschaftlich-metaphysisches
Spekulieren auf der einen Seite sowie auf 'Verflachung'
bzw. zweckrationale Verkürzung der menschlichen Existenz
auf der anderen" (37) R.S.: Ich denke für den 'freien Psychomarkt' stimmt
diese Prognose bereits mit Teilen der Wirklichkeit überein.
Doch nicht die Etablierung neuer 'Schulen' scheint mir
problematisch, die Anregungen Krauls - bei aller Verkürzung
und Schematisierung - stellen Fragen an das Selbstverständnis
der TherapeutInnen selbst. Selbstentwürfe und
Werthaltungen sind geschichtlich und zeigen sich gegenwärtig
in Ungleichzeitigkeiten (z.B. in der berühmt-berüchtigten
südoldenburgischen Sexualmoral). 'Geschichtlich' meint
aber nicht relativistisches Einerlei oder der freien
Willkür verfügbar. |
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* Achim Kraul - Die Wertorientierung. Die ideengeschichtliche Bedeutung von Wertorientierungen im Psychotherapie-Schulenvergleich, Psychotherapeut 1 / 98, 32-39 RS@suesske.de ©
Kurzreferat im Rahmen der Weiterbildung in der Abt. |