Dr. Roland Kaufhold - Bücher, Rezensionen, Texte  & Links 

Lesenlernen im Anfangsunterricht der Grundschule mit der "Kleinen weißen Ente"

Oder: Bruno Bettelheims Beitrag zu einer Psychologie des Lesenlernens

von Roland Kaufhold

 

D. Mauthe-Schonig, /B. Schonig/M. Speichert: Lesenlernen im Anfangsunterricht. Arbeitsbuch mit Geschichten von der „Kleinen weißen Ente“ und psychologischen sowie methodisch-didaktischen Hinweisen. Weinheim und Basel 2000.

In der KINDERANALYSE sind in den letzten Ausgaben zahlreiche Buchbesprechungen sowie Beiträge erschienen, in denen die Möglichkeiten einer Anwendung kinderanalytischer Kenntnisse auf verschiedene pädagogische Felder diskutiert wurden. In Heft 3/1996 publizierte Doris Mauthe-Schonig den Beitrag „Wenn Kinder in der Schule träumen...“, in dem sie, ausgehend von einem von ihr sowie zwei Kollegen herausgegebenen Erstleselehrgang, aus kindertherapeutisch-pädagogischer Perspektive die pädagogisch-psychologische Situation von Schulneulingen reflektiert. Nun haben diese drei Autoren eine überarbeitete und erweiterte Neuauflage dieses in mehrfacher Hinsicht höchst originellen Leselehrganges herausgegeben.

Primär beziehen sich Mauthe-Schonig et al. hierbei auf die Schriften Bruno Bettelheims (1977, 1982), welche den Leselernprozess sowie die Bedeutung von Märchen behandeln. Zugleich stehen sie hierin in der langjährigen Tradition psychoanalytischer Pädagogen, welche bereits in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts den Einfluß psychischer Verarbeitungsprozesse auf die Lernentwicklung bzw. auf die gescheiterte Lernentwicklung diskutiert haben.

Ich erinnere an die zum größten Teil in der „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“ (1926 – 1937) publizierten Beiträge von B. Bornstein (1930): „Beziehung zwischen Sexual- und Intellektentwicklung“ sowie „Zur Psychogenese der Pseudodebilität“ (dies., 1936), an S. Bornsteins (1934): „Unbewußtes der Eltern in der Erziehung der Kinder“, E. Buxbaums  „Massenpsychologische Probleme in der Schulklasse“ (1936; vgl. Buxbaum 1933, 1936, 1949, Kaufhold 2001a) sowie an „Denkhemmung und Aggression“ (A. Mänchen-Helfen, 1936):  In mehreren Essays in „Erziehung zum Überleben“ (1979) hat Bettelheim diese Tradition weitergeführt (vgl. Kaufhold 2001).

Mauthe-Schonig geht es in diesem sich primär an Grund- und Sonderschullehrer richtenden Lehrgang nun – obwohl sie zwei Fallbeispiele aus ihrer analytischen Arbeit darbietet (S. 77-79, S. 85-89) - nicht primär um klinisch-therapeutische Fragestellungen. Ihre Intention ist vielmehr die Entwicklung eines pädagogischen Gespürs für Voraussetzungen und Möglichkeiten, die dem Erzählen von Geschichten, im Kontext des Leselernprozesses des ersten Schuljahrs reflektiert, innewohnen. Diese von Bruno Schonig erdachten Geschichten stellen für den Schulneuling ein Beziehungsangebot dar, ermutigen zur Entwicklung eigener Assoziationen und Phantasien. Das Kontinuum dieser 40 Geschichten von der kleinen weißen Ente ermöglicht einen gemeinsamen Erlebniszusammenhang. Die Autoren betonen: „Diese Kontinuität ist wichtig, weil Kinder emotional nur besetzen können, was von Dauer ist. Und Kinder brauchen einen affektiven Bezug zu den Lerninhalten, sonst können sie Gelerntes nicht behalten.“ (S. 7)

In diesem Sinne setzen sie ihrem Buch ein Zitat Bettelheims voraus: „Ein Kind, das gern vorgelesen bekommt, lernt Bücher lieben. Es ist beeindruckt vom Interesse der Eltern am Lesen und von ihrer Freude am Vorlesen und studiert mit regem Interesse die Geschichten, die es faszinieren. Ganz von sich aus fängt es an, bestimmte Wörter herauszulesen.“

Das Spezifische dieses Leselehrganges spiegelt sich in der beruflichen Biographie der drei Herausgeber wieder: Doris Mauthe-Schonig war bis 1980 Grundschullehrerin und arbeitet heute in Berlin als Kinderanalytikerin, ihr Mann Bruno Schonig ist Erziehungswissenschaftler mit dem Schwerpunkt Reformpädagogik und pädagogische Erzählungen, Mechthild Speichert arbeitet als Leiterin einer Grundschule in Wiesbaden. Die Autoren betonen zugleich die Chance, die einer biographischen Aufarbeitung der höchst privaten Motive eines Lehrers für seine professionelle Arbeit mit Kindern zuzukommen vermag. In diesem Sinne führen sie im Vorwort über Doris Mauthe-Schonig aus:

„Als ehemalige Grundschullehrerin praktiziert sie heute als analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin. Aufgrund dieser beiden beruflichen Identitäten ist sie an den Möglichkeiten der Verknüpfung von Psychoanalyse und Pädagogik interessiert. Nicht im Sinne einer therapeutischen Arbeit in der Schule, sondern im Sinne von Aufklärung über innere Erlebniswelten von Kindern.“ (S. 8)

In der Neuauflage dieses Arbeitsbuches sind den ursprünglich 30 literarischen Geschichten von dem Zwerg Otto, der kleinen weißen Ente Loni und dem Kaninchen Lino 10 neue Erzählungen hinzugefügt worden, welche den Übergang zum Unterricht im 2. Schuljahr erleichtern sollen. Die spannenden Geschichten, aus der Perspektive der spezifischen, häufig angstbeladenen Situation von Schulanfängern formuliert, bilden die Grundmatrix des Leselehrganges. Ich selbst wende ihn seit fünf Jahren in den Klassen 1 und 2 einer Schule für Sprachbehinderte in Köln mit unverminderter Freude und Erfolg an.

Aus Platzgründen möchte ich an dieser Stelle nicht ausführlicher auf den Inhalt dieser 40 lustig-spannenden Geschichten eingehen - der Leser möge sich selbst auf die Lesereise ins Land dieser drei Protagonisten begeben – und auch nicht auf die von Speichert dargebotenen didaktisch-methodischen Anregungen, sondern die von Mauthe-Schonig formulierten psychologischen Aspekte (S. 67-89) skizzieren (vgl. auch Mauthe-Schonig 1996a, b; Kaufhold,  2001). In ihnen wird allgemeinverständlich dargestellt, was unter einer Zusammenführung psychoanalytischer und der vom französischen Schulreformer Celeste Freinet inspirierten reformpädagogischen Betrachtungsweisen verstanden werden könnte.

Mauthe-Schonig spricht, in Anlehnung an Bettelheim, von der Magie des Lesens – von der wir uns wohl nur anstecken zu lassen vermögen, wenn wir diese in uns selbst verspüren. Ohne eine Verknüpfung solcher privater Erfahrungen mit einem erfahrungsorientierten Leselehrgang dürften uns die Geschichten unserer drei Protagonisten letztlich fremd bleiben. Demgemäß bemerkt Mauthe-Schonig: „Wer sich für die Arbeit mit den Entengeschichten entschieden hat, wird ein Liebhaber von Geschichten sein und wird von der verzaubernden Wirkung, die das Vorlesen auf Kinder haben kann, überzeugt sein.“ (S. 71) Solche phantasievollen Geschichten sprechen die Psyche des Kindes (sowie des Lehrers) und regen zugleich dessen Intellekt an. Diesen Aspekt hatte Bettelheim (1982) in seiner vehementen Kritik an amerikanischen Leselehrfibeln pointiert formuliert. Mauthe-Schonig betont in diesem Sinne: „Die Reduzierung des Lesen- und Schreibenlernens auf den technischen Aspekt ist ein pädagogisches Armutszeugnis.“ (S. 71) Insbesondere in den ersten Geschichten der „kleinen weißen Fibel“ spiegelt sich die Lebenssituation des häufig noch ängstlichen, mit z. T. heftigen Trennungsgefühlen konfrontierten Schulneulings. Über das Verbalisieren und Zeichnen im Anschluß an die vorgelesenen Geschichten erlangen Kinder eine Möglichkeit der Symbolisierung und somit auch der Distanzierung bzw. Bewältigung dieser Gefühle. Das Setting des regelmäßigen, i.d.R. wöchentlichen Vorlesens in der Klasse bietet den Kindern ein besonderes, familiär getöntes Beziehungsangebot im Rahmen der Institution Schule. Die märchenhaften Geschichten, mit einer Erzählstimme vorgetragen, erleichtern psychische Entwicklungsprozesse wie Aufbruch, Separation und Individuation, welche zugleich im Sinne einer Verknüpfung von kognitiver mit emotionaler Entwicklung, innerer und äußerer Welt, Lernen erleichtern. Mauthe-Schonig formuliert, erneut in Anlehnung an Bettelheim:

„Die Entengeschichten sind über den Spaß hinaus, den es macht, sie vorgelesen zu bekommen, ein Unterrichtsmittel, das dem Kind in der Schule erlaubt, mit seiner inneren Welt in Kontakt zu bleiben. Dieser Kontakt zur inneren Welt ist für das Selbstgefühl von Kindern viel bedeutender als angenommen. Wenn das Kind zu früh mit einseitigen Lernforderungen pragmatischer Natur konfrontiert wird, wird es nur auf der bewußten Ebene und nicht in seiner Ganzheit angesprochen, zu der auch das Unbewußte gehört. Folge einer solchen Einseitigkeit oder besser gesagt Oberflächenhaftigkeit können erhebliche Lernstörungen sein. Dem Kind den Zugang zu seiner inneren Welt offen zu halten, das ist gleichbedeutend damit, dem Kind ein Gefühl von Identität zu geben.“ (S. 81)

Literatur:

Mauthe-Schonig, D. (1996a): Wenn Kinder in der Schule träumen... Übergangsphänomene am  Anfang des Latenzalters. In: Kinderanalyse 3/1996, S. 307-325.

(1996b): „Die kleine weiße Ente hat einen Traum...“ Psychoanalytische Anmerkungen zu einem Grundschulunterricht, in dem regelmäßig Geschichten erzählt werden. In: Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 7. Mainz.

Becker, U. (2001): Zur Integration und sonderpädagogischen Förderung von Schülern mit dem Förderschwerpunkt „emotionale und soziale Entwicklung“. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 1/2001, S. 13-21.

Benz, U. (2001): Kinder brauen Märchen – aber keine Märchenfilme. Zum Problem der Abwehr der Erkenntnisse Bruno Bettelheims. In: psychosozial Nr. 83, Heft 1/2001, S. 121-124.

Bettelheim, B. (1977): Kinder brauchen Märchen. Stuttgart.

-         (1982): Kinder brauchen Bücher. Stuttgart.

Buxbaum, E. (1933): Angstäußerungen von Schulmädchen im Pubertätsalter. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik 1933, 7, S. 401-409.

Buxbaum, E. (1936): Detektivgeschichten in ihrer Rolle in einer Kinderanalyse. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik 1936, 10, S. 113-121 (auf englisch: Buxbaum (1941): The role of detective stories in a child analysis., Psychoanaltic Quarterly, 10, S. 373-381).

Buxbaum, E. (1949, 1970): Your Child Makes Sense: A Guidebook for Parents. New York.

Buxbaum, E. (1973): Die Rolle der Eltern bei der Ätiologie von Lernstörungen. In: Ammon, G. (Hg.) (1973): Psychoanalytische Pädagogik, S. 204-229.

Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Gießen 2001.

Kaufhold, R. (2001a): Von Wien über New York nach Seattle/Washington: Zum 100. Geburtstag von Edith Buxbaum (1902 – 1982), einer Pionierin der Psychoanalytischen Pädagogik. In: Zeitschrift für Politische Psychologie, 9. Jg., 2001, Nr. 4, S. 221-233.

 

Diese Rezension ist erschienen in der Kinderanalyse 4/ 2001, S. 322-325.

 

 

Ergänzende Anmerkung

Vertiefende Ausführungen und Analysen zu diesem bemerkenswerten Leselehrgang für Grundschulkinder finden sich in dem Kapitel "Die Aktualität von Bettelheims Werk in der heutigen Pädagogik" in meinem Buch "Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung" (Kaufhold, 2001), S. 224-228.

Der Beltz-Verlag hat die vielfältigen, diesen Leselehrgang vertiefenden, von Mauthe-Schonig et al. entwickelten unterrichtspraktischen didaktischen Materialien aus ökonomischen Grunden aus seinem Vertrieb genommen.

Dies hat zu dem äußerst befremdlichen, fachlich nicht nachvollziehbaren Umstand geführt, dass dieser bemerkenswerte psychoanalytisch-pädagogische Leselehrgang beispielsweise nicht mehr in der Liste der vom Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen erstellten Liste der genehmigten Erstleselehrgänge enthalten ist.

Es bleibt zu hoffen, dass diese ökonomische bedingte pädagogische Verirrung korrigiert wird. Sie ist nicht zu vereinbaren mit meinen eigenen langjährigen, ermutigenden Erfahrungen in meinem Schulunterricht in den Klassen E, 1 und 2 in der Schule für Sprachbehinderte - eine Erfahrung, welche von hunderten engagierten KollegInnen in Grund- und Sonderschulen geteilt wird.

Die Neuauflage der „Kleinen weißen Ente“ gehört zu den wenigen pädagogischen Neuerscheinungen der letzten Jahre, die ich mit wirklicher Freude gelesen habe. Sie hat die Funktion, dieses liebenswerte reformpädagogische Projekt am Leben zu halten. In diesem Sinne hat Doris Mauthe-Schonig im Selbstverlag ergänzende Materialien (Lesehefte, Kopiervorlagen, ein Lesebuch) erstellt, welche bei ihr bezogen werden können (Doris Mauthe-Schonig, Carmerstr. 14, 10623 Berlin).

 

 


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