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Zeitschrift für Politische Psychologie,  Jg. 11,  2003,  Nr. 1-3

 

Zeitschrift für Politische Psychologie

 

Roland Kaufhold und
Michael Löffelholz (Hrsg.):

 „So können sie nicht leben“
    Bruno Bettelheim (1903-1990)

 

Inhaltsverzeichnis des Doppelheftes

 

 

Roland Kaufhold

Einführung in das Themenheft

Vor 100 Jahren, am 28. August 1903, wurde Bruno Bettelheim im Wien Sigmund Freuds geboren. Er gehört zu den weltweit bekanntesten Psychoanalytikern und psychoanalytischen Pädagogen. Bereits als Jugendlicher verkehrte er, angeregt durch seine Cousine Edith Buxbaum (1902-1982), im kleinen Kreis der Psychoanalytischen Pädagogen. Seine inspirierendsten Freunde in der Wiener Jugendbewegung waren Siegfried Bernfeld, Wilhelm Reich, Anna Freud, Otto Fenichel, Edith Buxbaum und Kurt Landau. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft sowie seiner Widerstandstätigkeit gegen die Nationalsozialisten wurde er für knapp elf Monate in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald gefangen gehalten. Dort hatte er sich mit Ernst Federn, Sohn des engen Freud-Mitarbeiters Paul Federn, befreundet, mit dem er als Überlebensversuch im gemeinsamen Gespräch in Buchenwald die Grundlagen einer Psychologie des Terrors entwickelte (s. Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des Terrors, Gießen 1999, Federn: Ein Leben mit der Psychoanalyse, 2000, Kuschey 2003).

Nach seiner glücklichen Emigration in die USA im April 1939 baute er von 1944 bis 1973 in Chicago gemeinsam mit amerikanischen KollegInnen sowie im Gedankenaustausch mit den Wiener Emigranten Fritz Redl, Emmy Sylvester sowie Rudolf Ekstein die legendäre Sonia Shankman Orthogenic School auf und machte sie zu einer international respektierten Spezialeinrichtung für seelisch sehr kranke Kinder.

Bruno Bettelheim hat nach seiner Emigration in die USA eine große Anzahl von Büchern mit einer außergewöhnlichen thematischen Vielfalt (Geschichte und Anwendung der Psychoanalyse, Pädagogik, Psychologie der Extremsituation, Lernstörungen, Behandlung des Autismus, Kulturkritik etc.) publiziert.

Im vorliegenden Heft wird dem Wirken sowie den Schriften Bettelheims in den USA in einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Psychoanalytikern, Pädagogen und Kulturwissenschaftlern aus Deutschland, Österreich, den USA, Israel sowie den Niederlanden nachgegangen. Anlass dieser Spurensuche ist der 100. Geburtstag Bruno Bettelheims.

Zum Aufbau des Heftes:

Nach einer Einleitung würdigt Ernst Federn (Wien), welcher im August diesen Jahres in Wien seinen 90. Geburtstag feiert, im biografischen Rückblick die Bedeutung seines engen Freundes und Kollegen. Ernst Federn, in Wien in außergewöhnlich mutiger Weise im antifaschistischen Widerstand engagiert,  war nach siebenjähriger Haft in Dachau und Buchenwald 1945 befreit und 1948 - nach einem Zwischenaufenthalt in Brüssel - in die USA gegangen, wo er als psychoanalytischer Sozialtherapeut wirkte. 1972 kehrte er gemeinsam mit seiner ebenfalls aus Wien gebürtigen Frau Hilde auf Einladung der österreichischen Regierung nach Wien zurück und wirkte an der Reform der österreichischen Strafvollzugs mit.

Hieran anknüpfend skizziert Roland Kaufhold (Köln) in einer umfangreichen biografisch-werktheoretischen Studie wesentliche Phasen aus Bettelheims Lebensweg und verknüpft diese in einer systematischen Werkstudie mit dessen insgesamt 17 Büchern, von denen 16 ins Deutsche übersetzt worden sind.

Die historisch-biografischen Kontexte von Bettelheims Wirken, welche vor allem durch seine entwurzelnden Erfahrungen in den deutschen Konzentrationslagern geprägt wurden, werden von den Psychoanalytikern Thomas Aichhorn (Wien), Hans-Jürgen Wirth / Trin Haland-Wirth (Gießen) sowie Bernd Nitzschke (Düsseldorf) analysiert.

Thomas Aichhorn, Enkel des Pioniers der Psychoanalytischen Pädagogik, August Aichhorn und Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV), betrachtet die Schriften und das Wirken Bettelheims im Kontext der u.a. von Anna Freud, Paul Federn, Bernfeld sowie den Sterbas begründeten "Wiener Tradition". Diese wurde durch den Nationalsozialismus im deutschsprachigen Raum zerstört und von einigen Emigranten im - vor allem amerikanischen - Exil aufbewahrt und viele Jahrzehnte später wieder in den deutschsprachigen Raum zurückgebracht (s. Aichhorn 2003, Kaufhold 2001). Aichhorn publiziert hierbei einige bisher unveröffentlichte historische Quellen, so Auszüge aus dem Briefwechsel Kurt R. Eissler / August Aichhorn.

Wirth / Haland-Wirth sowie Bernd Nitzschke analysieren das Trauma des Nationalsozialismus, die (Selbst-)Zerstörung der Psychoanalyse, in methodisch unterschiedlicher, sich ergänzender Weise. Wirth / Haland-Wirth stellen erstmals ihre aus einem gut sechsmonatigem Forschungsaufenthalt in den USA (New York und Boston, 2001/02) erwachsenen biografischen Forschungen zu in die USA emigrierten Analytikern vor, welche aus zahlreichen psychoanalytisch fundierten lebensgeschichtlichen Interviews mit diesen psychoanalytisch interessierten deutschsprachigen Emigranten erwachsen sind. Nitzschke hingegen analysiert, in Fortschreibung seiner früheren Forschungen zum tragischen Schicksal des radikalen Antifaschisten Wilhelm Reich (s. Fallend/Nitzschke 2002, s. Lothane 2003), in selbstkritischer Weise den Umgang der psychoanalytischen Standesgesellschaften mit Reich, welcher 1933/34 aus den psychoanalytischen Standesgesellschaften (sowie zeitgleich aus der Kommunistischen Partei) ausgeschlossen und pathologisiert worden war.

In den Beiträgen von Michael Winkler (Jena), Wilfried Gottschalch (Bussum/Niederlande), Claudia Jost (Hamburg) sowie David James Fisher (Los Angeles, s. Fisher 2003) werden psychoanalytisch-pädagogische Spuren von Bettelheims Wirken in Deutschland, Holland sowie den USA nachgezeichnet - Bettelheims neuer, zweiter Heimat, in welcher sein außergewöhnlich produktives Lebenswerk entstanden ist.

Thematische Schwerpunkte bilden hierbei das schwierige Verhältnis von Psychoanalyse und Pädagogik, das Verständnis von Autonomie als pädagogisch-biografische Grundkategorie, die Bedeutung von Fiktionen im Werk von Bettelheim und Janusz Korczak - welchem Bettelheim in seinem letzten Buch ein Denkmal gesetzt hatte - sowie eine kritische Würdigung von Bettelheims Lebenswerk, welche David James Fisher im Namen des Los Angeles Psychoanalytic Society and Institute 1989, unmittelbar vor Bettelheims tragischem Freitod, in Anwesenheit des vom Institut geehrten Bettelheim vortrug (s. Fishers Bettelheim-Studie, 2003).

Die klinische, pädagogisch-therapeutische Dimension von Bettelheims 30-jährigem milieutherapeutischen Wirken werden von Michael Maas (Tübingen) sowie Michael Langhanky (Hamburg) entworfen. So verknüpft Maas die eigenen milieutherapeutischen Erfahrungen im Rottenburger/Tübiger "Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit" mit autistisch-psychotischen Kindern und Jugendlichen mit den Erfahrungen von Bruno Bettelheim sowie dessen engen Freunden und Kollegen Ernst Federn und Rudolf Ekstein (Menninger Klinik, später Los Angeles; s. Kaufhold 2001) mit psychisch sehr kranken Kindern und Jugendlichen - von welchen man in Rottenburg nachdrücklich inspiriert wurde

In einem weiteren Schwerpunktkapitel werden z.T. biografisch inspirierte Begegnungen mit Bettelheim sowie deren Wirkungen dargeboten: Von Löffelholz, dem amerikanischen, aus Deutschland gebürtigen Psychoanalytiker Peter Loewenberg (Los Angeles) sowie von Ran Edelist (Israel); dieser beschreibt die ambivalente Rezeption von Bettelheims Studien zur Kibbuzerziehung, welche dieser 1964 in Israel erforscht hatte, in Israel selbst. Auch in diesen Beiträgen spiegelt sich die Breite von Bettelheims pädagogisch-psychoanalytischem Wirken wider, und sie veranschaulichen zugleich die außergewöhnliche, bis heute fortwirkende Produktivität dieses Wiener Emigranten und Shoah-Überlebenden.

Abgeschlossen wird dieses Bettelheims Wirken gewidmete Heft durch Bruno  Bettelheim selbst: Es wird erstmals auf deutsch dessen wohl letzter Beitrag publiziert: "Eine traurige Lektion: Verfluche Gott und lebe", welcher in den USA posthum publiziert wurde. Auch in diesem letzten, sehr berührenden Beitrag konfrontiert uns der Holocaust-Überlebende Bettelheim noch einmal in sehr persönlichen Worten mit dem Schrecken, den verstörenden Erfahrungen eines von der Shoah biografisch Verletzten: Bettelheim bespricht einen Roman seines Freundes und Kollegen Alvin A. Rosenfeld.

Abgerundet wird dieser 320 Seiten umfassende Band durch zahlreiche die Thematik vertiefende Buchrezensionen: Roland Kaufhold schreibt über die beiden von Thomas Aichhorn herausgegebenen Bände zur Geschichte der Wiener Psychoanalytischen Ver­einigung (WPV); über Bernhard Kuscheys monumentale Werkstudie über Ernst und Hilde Federn; über den Wilhelm Reich - Band von Karl Fallend/Bernd Nitzschke. Hierzu ergänzend folgt Kaufholds Rezension über das von Zvi Lothane (New York) herausgegebene Heft über "Psychoanalysis and the Third Reich" sowie über das Buch "Psychoanalyse und Politik" von Horst-Eberhard Richter. Weiterhin über Micha Brumlik (Hg.): "Zuhause, keine Heimat? Junge Juden und ihre Zukunft in Deutschland" sowie über Ulrich Völklein: "Der Judenacker. Eine Erbschaft".

Thomas Aichhorn (Wien) bespricht den Bettelheim-Band von David James Fisher (Los Angeles); hierzu ergänzend schreiben B. Janus-Stanek/ L. Janus über Paul Roazens (New York) Buch "Wie Freud arbeitete". Es folgen Rezensionen zu Karin Bell, Alex Holder u.a. (Hg.): Migration und Verfolgung; Elisabeth Rohr, Mechthild M. Jansen (Hg.): Frauen auf der Flucht, im Exil und in der Migration (Sasha Karminiski); Renos K. Papadopoulos (Hg.): Thera­peutic Care for Refugees: No Place like Home (Freihart Regner); Alicja Wancerz-Gluza (Hg.): Grenzerfahrungen. Jugendliche erforschen deutsch-polnische Geschichte (Karol Tyszka, Angela Kindervater); Erich Witte (Hg.): Sozialpsychologie politischer Prozesse (Angela Kindervater).

 

Autorenportrait        top
Roland Kaufhold Dr. phil., Dipl. Päd., Promotion am Fachbereich Erziehungs-wissenschaft der Universität Hamburg, arbeitet an einer Sonderschule für Sprachbehinderte in Köln. Roland Kaufhold im Psychosozial-Verlag: Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik: Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein, Ernst Federn und Siegfried Bernfeld, psychosozial Heft 53, 1993 Ernst Federn - Versuche zur Psychologie des Terrors. Material zum Leben und Werk von Ernst Federn, 1998 Deutsch-israelische Begegnungen, psychosozial Heft 83, 1/2001. 

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Die Zeitschrift: Konzept und Bezugsmöglichkeiten

 


erstellt am 19.03.2004

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