Roland Kaufhold
Einführung
in das Themenheft
Vor 100 Jahren, am 28. August 1903, wurde
Bruno Bettelheim
im Wien Sigmund Freuds geboren. Er gehört zu den weltweit bekanntesten Psychoanalytikern
und psychoanalytischen Pädagogen. Bereits als Jugendlicher verkehrte er, angeregt
durch seine Cousine Edith Buxbaum (1902-1982), im kleinen Kreis der
Psychoanalytischen Pädagogen. Seine inspirierendsten Freunde in der Wiener
Jugendbewegung waren Siegfried Bernfeld, Wilhelm Reich, Anna Freud, Otto
Fenichel, Edith Buxbaum und Kurt Landau.
Aufgrund seiner jüdischen Herkunft sowie seiner Widerstandstätigkeit gegen
die Nationalsozialisten wurde er für knapp elf Monate in den Konzentrationslagern
Dachau und Buchenwald gefangen gehalten. Dort hatte er sich mit Ernst Federn,
Sohn des engen Freud-Mitarbeiters Paul Federn, befreundet, mit
dem er als Überlebensversuch im gemeinsamen Gespräch in Buchenwald die Grundlagen
einer Psychologie des Terrors entwickelte (s. Ernst Federn: Versuche zur
Psychologie des Terrors, Gießen 1999, Federn: Ein Leben mit der Psychoanalyse,
2000, Kuschey 2003).
Nach seiner glücklichen Emigration in die USA im April
1939 baute er von 1944 bis 1973 in Chicago gemeinsam mit amerikanischen KollegInnen
sowie im Gedankenaustausch mit den Wiener Emigranten Fritz Redl, Emmy Sylvester
sowie Rudolf Ekstein die legendäre Sonia Shankman Orthogenic School
auf und machte sie zu einer international respektierten Spezialeinrichtung
für seelisch sehr kranke Kinder.
Bruno Bettelheim hat nach seiner Emigration in die USA
eine große Anzahl von Büchern mit einer außergewöhnlichen thematischen Vielfalt
(Geschichte und Anwendung der Psychoanalyse, Pädagogik, Psychologie der Extremsituation,
Lernstörungen, Behandlung des Autismus, Kulturkritik etc.) publiziert.
Im vorliegenden Heft wird dem Wirken sowie den Schriften
Bettelheims in den USA in einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Psychoanalytikern,
Pädagogen und Kulturwissenschaftlern aus Deutschland, Österreich, den USA,
Israel sowie den Niederlanden nachgegangen. Anlass dieser Spurensuche ist
der 100. Geburtstag Bruno Bettelheims.
Zum
Aufbau des Heftes:
Nach einer Einleitung würdigt Ernst Federn (Wien),
welcher im August diesen Jahres in Wien seinen 90.
Geburtstag feiert, im biografischen Rückblick die Bedeutung seines engen Freundes
und Kollegen. Ernst Federn, in Wien in außergewöhnlich mutiger Weise im antifaschistischen
Widerstand engagiert, war nach siebenjähriger Haft in Dachau und Buchenwald
1945 befreit und 1948 - nach einem Zwischenaufenthalt in Brüssel - in die
USA gegangen, wo er als psychoanalytischer Sozialtherapeut wirkte. 1972 kehrte
er gemeinsam mit seiner ebenfalls aus Wien gebürtigen Frau Hilde auf Einladung
der österreichischen Regierung nach Wien zurück und wirkte an der Reform der
österreichischen Strafvollzugs mit.
Hieran anknüpfend skizziert Roland Kaufhold (Köln)
in einer umfangreichen biografisch-werktheoretischen Studie wesentliche Phasen
aus Bettelheims Lebensweg und verknüpft diese in einer systematischen Werkstudie
mit dessen insgesamt 17 Büchern, von denen 16 ins Deutsche übersetzt worden
sind.
Die historisch-biografischen Kontexte von Bettelheims
Wirken, welche vor allem durch seine entwurzelnden Erfahrungen in den deutschen
Konzentrationslagern geprägt wurden, werden von den Psychoanalytikern Thomas
Aichhorn (Wien), Hans-Jürgen Wirth / Trin
Haland-Wirth (Gießen) sowie Bernd Nitzschke
(Düsseldorf) analysiert.
Thomas Aichhorn, Enkel des
Pioniers der Psychoanalytischen Pädagogik, August Aichhorn
und Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV),
betrachtet die Schriften und das Wirken Bettelheims im Kontext der u.a. von
Anna Freud, Paul Federn, Bernfeld sowie den Sterbas
begründeten "Wiener Tradition". Diese wurde durch den Nationalsozialismus
im deutschsprachigen Raum zerstört und von einigen Emigranten im - vor allem
amerikanischen - Exil aufbewahrt und viele Jahrzehnte später wieder in den
deutschsprachigen Raum zurückgebracht (s. Aichhorn
2003, Kaufhold 2001). Aichhorn publiziert hierbei
einige bisher unveröffentlichte historische Quellen, so Auszüge aus dem Briefwechsel
Kurt R. Eissler / August Aichhorn.
Wirth / Haland-Wirth sowie
Bernd Nitzschke analysieren das Trauma des Nationalsozialismus, die (Selbst-)Zerstörung
der Psychoanalyse, in methodisch unterschiedlicher, sich ergänzender Weise.
Wirth / Haland-Wirth stellen erstmals ihre aus einem
gut sechsmonatigem Forschungsaufenthalt in den USA (New York und Boston, 2001/02)
erwachsenen biografischen Forschungen zu in die USA emigrierten Analytikern
vor, welche aus zahlreichen psychoanalytisch fundierten lebensgeschichtlichen
Interviews mit diesen psychoanalytisch interessierten deutschsprachigen Emigranten
erwachsen sind. Nitzschke hingegen analysiert, in Fortschreibung seiner früheren
Forschungen zum tragischen Schicksal des radikalen Antifaschisten Wilhelm
Reich (s. Fallend/Nitzschke 2002, s. Lothane 2003), in selbstkritischer Weise den Umgang der psychoanalytischen
Standesgesellschaften mit Reich, welcher 1933/34 aus den psychoanalytischen
Standesgesellschaften (sowie zeitgleich aus der Kommunistischen Partei) ausgeschlossen
und pathologisiert worden war.
In den Beiträgen von Michael Winkler (Jena), Wilfried
Gottschalch (Bussum/Niederlande),
Claudia Jost (Hamburg) sowie David James Fisher (Los Angeles,
s. Fisher 2003) werden psychoanalytisch-pädagogische Spuren von Bettelheims
Wirken in Deutschland, Holland sowie den USA nachgezeichnet - Bettelheims
neuer, zweiter Heimat, in welcher sein außergewöhnlich produktives Lebenswerk
entstanden ist.
Thematische Schwerpunkte bilden hierbei das schwierige
Verhältnis von Psychoanalyse und Pädagogik, das Verständnis von Autonomie
als pädagogisch-biografische Grundkategorie, die Bedeutung von Fiktionen im
Werk von Bettelheim und Janusz Korczak - welchem Bettelheim in seinem letzten Buch ein Denkmal
gesetzt hatte - sowie eine kritische Würdigung von Bettelheims Lebenswerk,
welche David James Fisher im Namen des Los Angeles Psychoanalytic
Society and Institute 1989, unmittelbar vor Bettelheims tragischem Freitod,
in Anwesenheit des vom Institut geehrten Bettelheim vortrug (s. Fishers Bettelheim-Studie,
2003).
Die klinische, pädagogisch-therapeutische Dimension
von Bettelheims 30-jährigem milieutherapeutischen
Wirken werden von Michael Maas (Tübingen) sowie Michael Langhanky (Hamburg) entworfen. So verknüpft Maas die eigenen
milieutherapeutischen Erfahrungen im Rottenburger/Tübiger
"Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit" mit autistisch-psychotischen
Kindern und Jugendlichen mit den Erfahrungen von Bruno Bettelheim sowie dessen
engen Freunden und Kollegen Ernst Federn und Rudolf Ekstein
(Menninger Klinik, später Los Angeles; s. Kaufhold
2001) mit psychisch sehr kranken Kindern und Jugendlichen - von welchen man
in Rottenburg nachdrücklich inspiriert wurde
In einem weiteren Schwerpunktkapitel werden z.T. biografisch inspirierte Begegnungen mit Bettelheim
sowie deren Wirkungen dargeboten: Von Löffelholz, dem amerikanischen,
aus Deutschland gebürtigen Psychoanalytiker Peter Loewenberg
(Los Angeles) sowie von Ran Edelist (Israel); dieser beschreibt die ambivalente Rezeption
von Bettelheims Studien zur Kibbuzerziehung, welche dieser 1964 in Israel
erforscht hatte, in Israel selbst. Auch in diesen Beiträgen spiegelt sich
die Breite von Bettelheims pädagogisch-psychoanalytischem Wirken wider, und
sie veranschaulichen zugleich die außergewöhnliche, bis heute fortwirkende
Produktivität dieses Wiener Emigranten und Shoah-Überlebenden.
Abgeschlossen wird dieses Bettelheims Wirken gewidmete
Heft durch Bruno Bettelheim selbst:
Es wird erstmals auf deutsch dessen wohl letzter Beitrag publiziert: "Eine
traurige Lektion: Verfluche Gott und lebe", welcher in den USA posthum
publiziert wurde. Auch in diesem letzten, sehr berührenden Beitrag konfrontiert
uns der Holocaust-Überlebende Bettelheim noch einmal in sehr persönlichen
Worten mit dem Schrecken, den verstörenden Erfahrungen eines von der Shoah
biografisch Verletzten: Bettelheim bespricht einen Roman seines Freundes und
Kollegen Alvin A. Rosenfeld.
Abgerundet wird dieser 320 Seiten umfassende Band durch
zahlreiche die Thematik vertiefende Buchrezensionen: Roland Kaufhold
schreibt über die beiden von
Thomas Aichhorn herausgegebenen
Bände zur Geschichte der Wiener Psychoanalytischen
Vereinigung (WPV); über Bernhard Kuscheys
monumentale Werkstudie über Ernst und Hilde Federn; über den Wilhelm Reich
- Band von Karl Fallend/Bernd Nitzschke. Hierzu ergänzend folgt Kaufholds
Rezension über das von Zvi Lothane
(New York) herausgegebene Heft über "Psychoanalysis and the Third Reich" sowie über
das Buch "Psychoanalyse und Politik" von Horst-Eberhard Richter.
Weiterhin über Micha Brumlik (Hg.): "Zuhause, keine Heimat? Junge Juden
und ihre Zukunft in Deutschland" sowie über Ulrich Völklein:
"Der Judenacker. Eine Erbschaft".
Thomas
Aichhorn (Wien) bespricht den Bettelheim-Band von
David James Fisher (Los Angeles); hierzu ergänzend schreiben B. Janus-Stanek/
L. Janus über Paul Roazens (New York)
Buch "Wie Freud arbeitete". Es folgen Rezensionen zu Karin Bell,
Alex Holder u.a. (Hg.): Migration und Verfolgung; Elisabeth Rohr, Mechthild
M. Jansen (Hg.): Frauen auf der Flucht, im Exil und in der Migration (Sasha
Karminiski); Renos K. Papadopoulos
(Hg.): Therapeutic Care
for Refugees: No Place like Home (Freihart Regner);
Alicja Wancerz-Gluza (Hg.):
Grenzerfahrungen. Jugendliche erforschen deutsch-polnische
Geschichte (Karol Tyszka, Angela Kindervater);
Erich Witte (Hg.): Sozialpsychologie politischer Prozesse (Angela Kindervater).
Autorenportrait
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Roland
Kaufhold
Dr. phil., Dipl. Päd., Promotion am Fachbereich
Erziehungs-wissenschaft der Universität Hamburg, arbeitet an einer Sonderschule für Sprachbehinderte in Köln. Roland Kaufhold im
Psychosozial-Verlag: Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik: Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein, Ernst Federn und
Siegfried Bernfeld, psychosozial Heft 53, 1993 Ernst Federn - Versuche zur Psychologie des Terrors. Material zum Leben und
Werk von Ernst Federn, 1998 Deutsch-israelische Begegnungen, psychosozial Heft 83, 1/2001.
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